„Eine ganz andere Türkei“
Mit Großkundgebungen ist in der Türkei der Wahlkampf für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am Sonntag zu Ende gegangen. Hunderttausende Menschen kamen am Samstag zur Abschlussveranstaltung des oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Muharrem Ince (CHP) in Istanbul. Präsident Recep Tayyip Erdogan hielt ebenfalls mehrere Kundgebungen ab.
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Der 64-jährige Staatschef versprach dabei eine freie und faire Wahl in der Türkei. „Wir haben alle möglichen Sicherheitsmaßnahmen getroffen“, sagte er zu den Tausenden Zuschauerinnen und Zuschauern bei einer Kundgebung. Wählerinnen und Wähler könnten Sicherheitskräfte in die Wahllokale bitten, wenn sie Probleme hätten. Erdogan verwies darauf, dass alle Parteien Wahlbeobachter an den Urnen hätten. „Wir sind ein Rechtsstaat“, so Erdogan.
„Wir haben nur noch Stunden“
„Wir haben nur noch Stunden“, mobilisierte er zur Stimmabgabe. „Passt auf! Lasst nicht nach. Nehmt alle eure Freunde und Verwandte mit zu den Wahlurnen. Gott bewahre, dass Faulheit uns in eine schwierige Lage bringt.“ Wohl Hintergrund für den Appell: Erdogan ist zwar der Favorit, Umfragen zufolge ist offen, ob er die Präsidentschaftswahl in der ersten Runde gewinnt. Sollte das nicht der Fall sein, müsste er am 8. Juli in eine Stichwahl gegen den Zweitplatzierten oder die Zweitplatzierte.

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Erdogan absolvierte mehrere Auftritte
Trotzdem gab er sich siegessicher. Bei fast allen seiner Wahlkampfveranstaltungen hatte er die Leistungen seiner Partei hervorgehoben. Auch am Samstag sprach er wieder von Krankenhäusern, Brücken, Tunneln und Universitäten, die seine Regierung gebaut habe. Der Oppositionspartei CHP dagegen warf er erneut Untätigkeit vor. „Es ist eine Sache, Physiklehrer zu sein, aber etwas anderes, ein Land zu führen. Präsident zu sein braucht Erfahrung“, sagte er laut türkischen Medien mit Blick auf den früheren Lehrer Ince, der zwar seit 16 Jahren Abgeordneter ist, aber keine Regierungserfahrung hat.
Opposition versammelt Massen
Eine „ganz andere Türkei“ stellte indes Ince vor Hunderttausenden Zuhörerinnen und Zuhörern im Falle eines Wahlsieges in Aussicht. Er kündigte an, die Justiz unabhängig zu machen und den Beitrittsprozess mit der EU voranzutreiben. „Sofort, nachdem ich gewählt werde, werde ich die Hauptstädte in Europa besuchen“, sagte er. „Wir werden die Verhandlungen mit der Europäischen Union beschleunigen.“

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Großer Andrang beim Wahlkampffinale der Opposition
Der Kandidat versprach, den Ausnahmezustand in der Türkei innerhalb von 48 Stunden aufzuheben und die Privatsphäre der Bürger zu schützen. „Ich verspreche Euch, dass die Telefone von keinem von Euch abgehört werden.“ Er fügte hinzu: „Ich werde alles Nötige für eine unabhängige und unparteiische Justiz tun.“
Staatsmedien zeigten Erdogan
Der letzte große Auftritt Inces vor dem Wahlkampfende zog massenhaft Menschen an. Der Kandidat selber sprach von fünf Millionen Besuchern auf dem Versammlungsplatz in Maltepe, Augenzeugen hielten diese Zahl allerdings für zu hoch. Der Staatssender TRT berichtete trotz des Massenauflaufs nicht über den Auftritt, sondern schaltete zu Wahlkampfveranstaltungen von Erdogan, der am Samstag fünfmal in Istanbul auftreten wollte.

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Ince positionierte sich in den letzten Wochen als Kandidat einer vereinten Opposition
Ince nannte die regierungsnahen Medien in der Türkei „kriecherisch und parteiisch“ und machte Erdogan dafür verantwortlich, dass sie seine Versammlung nicht übertrugen. „Wenn ein faschistischer Kopf wie Erdogan fünf Millionen sieht, dann sagt er, sie sollen nicht senden. Deshalb sagt er es, aus Angst, aus Angst!“, rief Ince. „Das sind seine letzten Zuckungen!“ Die Verantwortlichen bei TRT werde er „vor Gericht stellen“. Mehr als 500.000 Menschen folgten der Übertragung der Versammlung auf Inces Twitter-Konto.
Demirtas meldete sich aus Haft
Umfragen sehen Ince am zweiten Platz, gefolgt von der Kandidatin Meral Aksener von der nationalkonservativen Iyi-Partei und Selahattin Demirtas von der prokurdischen HDP. Aksener hatte ihre Kundgebungen am Samstag wegen des Todes eines Parteifreundes gestrichen. Demirtas ist seit November 2016 unter Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft.
Demirtas wandte sich am Samstag im Staatssender TRT - der Kandidaten Sendezeit einräumen muss - an die Wähler. Wie zuvor auch Ince kündigte Demirtas in der im Gefängnis im westtürkischen Edirne aufgezeichneten Ansprache an, den Ausnahmezustand aufzuheben und die Einführung von Erdogans Präsidialsystem wieder rückgängig zu machen. Dafür wäre allerdings eine erneute Verfassungsänderung notwendig. Der nächste Präsident wird zugleich Staats- und Regierungschef und ist mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet.
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