Die Trümmerfrau der SPD
Am Dienstag hat das SPD-Parteipräsidium Andrea Nahles einstimmig für die Parteispitze nominiert und könnte so zur ersten Vorsitzenden der SPD werden. Nach dem tiefen Fall des Martin Schulz lastet riesiger Druck auf ihren Schultern. Und der Start ist von Schatten begleitet. Begleitet wird sie etwa vom Satz „Ab morgen gibt’s in die Fresse“ - gemünzt auf die Union, der sie nach der Bundestagswahl eine harte Opposition versprach.
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Es kam alles anders. Auch für sie persönlich. Derzeit bekommt vor allem die SPD einiges ab. Nach dem Fiasko mit Martin Schulz soll Nahles nun für den Generationswechsel stehen. Nahles wäre die erste Frau an der Spitze der altehrwürdigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Sie war es, die am 21. Jänner mit einer fulminanten Rede beim Sonderparteitag in Bonn die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit CDU/CSU rettete. Sie verwarf ihr Manuskript und setzte auf Emotion. Sie sei in der Politik, weil sie Großes im Kleinen sehe, eben die kleinen Veränderungen, von denen aber Millionen profitierten. „Die zeigen uns ’nen Vogel“, rief sie mit Blick auf die Wähler, wenn man trotz der Sondierungsergebnisse mit viel SPD-Rot nicht verhandle.
„Ja“ für die Große Koalition als erste Hürde
Die 47 Jahre alte Germanistin und engagierte Katholikin ist jetzt so was wie die Trümmerfrau der SPD. Sie muss die Partei modernisieren, verjüngen, die dramatische strukturelle Schwäche in Ost- und Süddeutschland angehen, eine Zukunftsidee entwickeln, die SPD wieder näher an die Leute heranrücken. Um der AfD Wähler wieder abzutrotzen.
Und als Allererstes die SPD-Mitglieder zum Ja für die Große Koalition bewegen. Es ist ein fast unmenschliches Pensum. Seit Monaten. Mit einem Klare-Kante-Kurs, frohem Gemüt und mitunter einem Hang zum Infantilen („Bätschi“ an die Union, Pippi-Langstrumpf-Lied im Bundestag) sorgt Nahles oft für Aufsehen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) schätzt sie als professionelle Politikerin. Als Arbeitsministerin (2013-2017) setzte Nahles den historischen Mindestlohn von 8,50 Euro durch.
„Hausfrau oder Bundeskanzlerin“
In ihrer Maturazeitung nannte sie bei der Frage nach dem Berufswunsch zwei Alternativen: „Hausfrau oder Bundeskanzlerin“. Da es in ihrem Heimatdorf Weiler in der Eifel keinen SPD-Ortsverein gab, gründete sie selbst einen. Bis heute ist sie sehr heimatverbunden. Ihre siebenjährige Tochter Ella Maria geht daheim zur Schule. Nahles fährt am Wochenende nach Hause, wenn es geht.
Nachdem sie bis Mittwoch 24 Stunden den Koalitionsvertrag mit der Union ausgehandelt und danach abends noch mit Schulz eine Pressekonferenz zur Übernahme des SPD-Vorsitzes gegeben hatte, war sie Donnerstag zum Weiberfastnachtsumzug wieder daheim. Verkleidet als Clown.
Nun muss die über ein beachtliches Netzwerk verfügende Tochter eines Maurers den Neuaufbau der SPD in Angriff nehmen. Doch die Umstände haben ihr geschadet, auch wenn sie sich dagegen wehrt, dass der Wechsel auf dem SPD-Vorsitz wieder einmal eine Sturzgeburt sei.
Stets loyal zu Schulz
Auf die Frage, was sie besser als Schulz könne, sagte sie bei der gemeinsamen Pressekonferenz: „Stricken“. Sie war bis an die Grenze loyal zu ihm. Sie habe diesen Schritt mit Schulz freundschaftlich entschieden. Man sei fair miteinander umgegangen. „Ich habe auch schon anderes in dieser Partei erlebt“, so Nahles.
Dennoch werden ihr zwei Dinge vorgehalten: Erstens, dass die Nachfolge „wie bei den Männern“ wieder im kleinen Kreis entschieden wurde. Schon gibt es Forderungen von allen Seiten, dies künftig zwischen mehreren Bewerbern per Urwahl durch alle SPD-Mitglieder zu entscheiden.
Und zweitens fragen sich viele, warum sie und SPD-Vize Olaf Scholz, der mögliche Vizekanzler und Finanzminister, nicht Schulz Einhalt geboten haben bei seinem Plan, zwar den Vorsitz abzugeben, aber sich als Außenminister in die Regierung zu retten.
Zum zweiten Mal im Zentrum von SPD-Verwerfungen
Nahles hat normalerweise ein gutes Gespür für die Basis. Musste sie nicht wissen, dass der Wortbruch von Schulz („In eine Regierung von Angela Merkel werde ich nicht eintreten“) zu einem Proteststurm führen würde? Oder ließ sie ihn bewusst ins Messer laufen, um nicht wieder wie 2005 als Königsmörderin dazustehen?
Es ist eine Ironie der Geschichte. Denn schon das zweite Mal ist sie Hauptprotagonistin bei Verwerfungen in der SPD während der Bildung einer Großen Koalition. 2005 gehörte die frühere Juso-Chefin noch klar zum linken Parteiflügel. Sie trat in einer Kampfabstimmung um den Generalsekretärsposten gegen den Kandidaten des damaligen SPD-Chefs Franz Müntefering an, Kajo Wasserhövel. Nahles gewann - und Müntefering trat zurück. Matthias Platzeck wurde sein Nachfolger, und Nahles wurde damals (noch) nicht Generalsekretärin.
Wenig Chancen für Gabriel
Nahles und die SPD, das ist auch eine Geschichte vieler Kämpfe. Schon beim Sturz von Rudolf Scharping durch Oskar Lafontaine 1995 spielte sie eine tragende Rolle. Und sie machte Kanzler Gerhard Schröder wegen dessen Reform-Agenda 2010 das Leben schwer. 2007 wurde sie Vizevorsitzende, 2009 dann Generalsekretärin unter Sigmar Gabriel.
Eine schwierige Zeit, Alleingänge und Macho-Gehabe sorgten schnell für Reibereien. Und diese Vorgeschichte erklärt auch, warum Gabriel trotz des Verzichts von Schulz wenig Chancen hat, unter Nahles als Außenminister weiterzumachen. Nahles weiß, wenn die Mission gut geht, ist sie die geborene Kanzlerkandidatin für 2021. Dann könnte es auch mit dem Berufswunsch aus Maturazeiten vielleicht noch etwas werden.
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