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Komplexe Interessenlage in Nordsyrien

Die Türkei nutzt die Wirren im Bürgerkriegsland Syrien für einen Schlag gegen Kurden. Seit Samstag geht die türkische Armee in der syrischen Provinz Afrin gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) vor. Mit Russland ist der Schritt abgesprochen, international stößt die türkische Offensive auf Besorgnis, doch bleibt es bisher bei sanften Appellen zur Mäßigung.

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US-Verteidigungsminister James Mattis rief am Dienstag Ankara erneut zur „Zurückhaltung“ auf, vermied aber direkte Kritik am NATO-Partner. Auch eine Sitzung des UNO-Sicherheitsrats zu Syrien endete ohne gemeinsame Erklärung.

Aus Russland, das eine zentrale Stellung im Nordwesten Syriens hat, kam ein sanfter Appell an die Türkei, allerdings hat Moskau wohl die Zustimmung zu der Offensive gegeben. Nach dem Besuch des türkischen Generalstabschefs Hulusi Akar und des Geheimdienstchefs Hakan Fidan vergangene Woche in Moskau wurden Militärbeobachter aus der Region abgezogen und der Luftraum geräumt.

Türkisches Militär in Syrien

APA/AP/Lefteris Pitarakis

Türkische Panzer in der Nähe der syrischen Grenze

Türkei gegen PKK-Terror und Kurdenstaat

Ankara betrachtet die YPG als syrischen Zweig der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die sowohl in der Türkei als auch in Europa als Terrororganisation eingestuft wird. Seit dem Zusammenbruch eines mehrjährigen Waffenstillstands mit der PKK im Juli 2015 ist der Konflikt wieder voll entbrannt, und die Türkei geht gegen die Kurden nicht nur im eigenen Land vor: In den Konfliktgebieten im Irak und in Syrien vermutet die türkische Regierung das Hinterland für PKK-Terror. Und das große Schreckgespenst ist ein zusammenhängendes kurdisches Territorium in den drei Ländern, das früher oder später dem Ruf nach einem Kurdenstaat ernsthafte Chancen geben könnte.

Offensive schon im Sommer angekündigt

Die türkischen Pläne für die Offensive gibt es wohl schon länger: Im August hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einem Besuch von US-Verteidigungsminister Mattis bereits gesagt, dass sein Land „niemals die Schaffung eines Terrorkorridors in Syrien zum Mittelmeer erlauben“ werde. Schon damals kündigte er die Intervention gegen die kurdische Region Afrin an. Allerdings waren die Vorzeichen noch andere.

Ärger über US-Pläne zur Aufrüstung

Das Bündnis der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), das von der YPG geführt wird, ist ein Verbündeter der USA. Und noch im Herbst hatten die Kämpfer mit US-Unterstützung große Erfolge im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) errungen - unter anderem eroberten sie die ehemalige IS-Hochburg al-Rakka.

Landkarte Grenzgebiet Syrien und Türkei mit kontrollierten Gebieten und Siedlungsgebieten der Kurden

Grafik: APA/ORF.at, Quelle: APA/Institute for the Study of War

Ein türkischer Angriff auf Afrin hätte damals bedeutet, den Kampf gegen den IS zu schwächen. Nun, da die Dschihadistenmiliz in Syrien immer mehr auf verlorenem Posten steht, schien die Zeit reif - vor allem aber wollte man auch US-Pläne durchkreuzen. Die USA hatten angekündigt, in Nordsyrien eine 30.000 Mann starke Grenzschutztruppe aus kurdischen und arabischen Kämpfern aufzubauen.

Unterstützen USA die Kurden weiter?

Die USA stehen jedenfalls vor einem Dilemma. Sie können den NATO-Partner Türkei nicht vor den Kopf stoßen, entsprechend vorsichtig sind die Mahnungen und Appelle formuliert. Man müsse sich „auf die gemeinsame Bedrohung durch den Islamischen Staat“ konzentrieren, heißt es nun genauso wie schon 2016, als die Türkei ihre erste Offensive auf Afrin gestartet hatte. Den syrischen Kurden droht ein ähnliches Schicksal wie den kurdischen Peschmerga-Kämpfern im Irak. Im Kampf gegen den IS wurden sie gebraucht, große Gegenleistungen dafür gibt aber kaum.

Autonome Strukturen in Nordsyrien

Eines der großen Fragezeichen bleibt, wie sich die Situation nun weiterentwickeln wird. Afrin ist einer von drei Kantonen, die die Demokratische Föderation Nordsyrien, auch Rojava genannt, bilden. Gemeinsam mit Kobane und Dschasira konnte man trotz der Kriegswirren eine autonome und selbst verwaltete Region schaffen, die etwa bezüglich Frauenrechten eine vergleichsweise fortschrittliche Politik macht. Greift die Türkei weitere Gebiete der Region an, wird sich der kurdische Widerstand wohl noch weiter verschärfen.

Iran und Russland könnten Notbremse ziehen

Und die Türkei darf den Bogen auch gegenüber dem syrischen Regime und dessen Unterstützern Russland und Iran nicht überspannen: Der syrische Präsident Baschar al-Assad nannte die türkische Militäroperation eine „böse Aggression“ - kein Wunder, wird die türkische Bodenoffensive doch von 25.000 Kämpfern der Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) unterstützt, die den Sturz Assads erreichen will.

Moskau, so spekulieren Beobachter, könnte auch grünes Licht gegeben haben, um zuzusehen, wie sich die NATO-Partner Türkei und USA in die Haare geraten. Sollte der türkische Vorstoß aber zu weit gehen, etwa wenn auch die Stadt Manbidsch angegriffen wird, könnten Russland und der Iran aber schnell die Notbremse ziehen.

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