Warnung vor „frommen Wünschen“
Nach jahrelangen Debatten hat die EU mit der Verabschiedung der „Europäischen Säule sozialer Rechte“ versucht, ein Zeichen gegen die Kritik zu setzen, die Union vertrete nur die Interessen der Wirtschaft, nicht aber ihrer Bürgerinnen und Bürger.
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Im schwedischen Göteborg verabschiedeten die EU-Staats- und Regierungschefs die Erklärung mit 20 Grundprinzipien für faire Arbeitsbedingungen und soziale Absicherung. Rechtlich bindend ist diese „Soziale Säule“ freilich nicht. Das Treffen war aber der erste Sozialgipfel der EU seit 20 Jahren. Im Namen aller 28 Staats- und Regierungschefs paraphierten Kommissionschef Jean-Claude Juncker, Parlamentspräsident Antonio Tajani und Estlands Regierungschefs Jüri Ratas, dessen Land derzeit den EU-Vorsitz innehat, die Erklärung von Göteborg.
Gegen prekäre Arbeitsbedingungen
„Ein stärkerer Schwerpunkt auf Beschäftigungs- und Sozialfragen ist besonders wichtig, um für mehr Stabilität zu sorgen“, heißt es darin. Die Erklärung betont unter anderem das Recht auf „Bildung und lebenslanges Lernen von hoher Qualität“, die Gleichstellung der Geschlechter auch bei der Bezahlung und „angemessene Mindestlöhne“. Sie wendet sich gleichzeitig gegen „Beschäftigungsverhältnisse, die zu prekären Arbeitsbedingungen führen“.
Die Erklärung sei ein „Meilenstein für Europa“, sagte Juncker. Sie zeige, dass die EU nicht nur ein Binnenmarkt sei und „mehr als Geld, mehr als der Euro“. Es gehe in Europa um Werte „und die Art und Weise, wie wir leben wollen“. Er hoffe, dass die Erklärung von Göteborg „nicht einfach eine Aufzählung frommer Wünsche bleibt, sondern dass wir konkrete Gesetzesvorhaben auf den Weg bringen“.
EU hat kaum Kompetenzen
Die EU hat allerdings kaum Zuständigkeiten im Sozialbereich, diese liegen bei den Mitgliedsstaaten. Und die Göteborger Erklärung betont, dass EU-Kompetenzen in diesem Bereich nicht ausgeweitet werden.
Doch die EU sieht sich nach dem „Brexit“-Votum und Zuwächsen für populistische und europafeindliche Parteien bei Wahlen in Frankreich, Deutschland und Österreich unter Druck. In ihr wächst 18 Monate vor den Wahlen zum Europaparlament die Sorge, dass auch dort bald weit mehr EU-Kritiker vertreten sein werden.
„Misstrauen der Bevölkerung“
Der schwedische Ministerpräsident Stefan Löfven sah ein „wachsendes Misstrauen“ der Bevölkerung gegenüber der Politik. „Es ist Zeit, dass wir in der EU die Bürger in den Mittelpunkt stellen“, sagte er. Beim Mittagessen berieten die Staats- und Regierungschefs auch über Bildung und Kultur. Dabei ging es insbesondere um einen verstärkten Jugendaustausch und die europaweite Anerkennung von Abschlüssen.
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) reiste wegen der laufenden Koalitionssondierungen nicht nach Göteborg. Die CSU kritisierte die Erklärung scharf als „Versuch, eine europäische Sozialtransferunion durch die Hintertür zu schaffen“. Der Linken-Politiker Andrej Hunko wiederum nannte die soziale Säule ein „Placebo“. Sie sei „im besten Fall“ ein „Feigenblatt für die auch durch die EU vorangetriebene unsoziale Politik“.
Grundsätzliches Lob von Gewerkschaften
Gewerkschaften, Europaparlamentarier und Hilfsorganisationen begrüßten den Gipfel grundsätzlich. Kritik gab es aber an der Tatsache, dass die „Soziale Säule“ rechtlich unverbindlich sei. „Die Gewerkschaften in ganz Europa fordern bindende Maßnahmen“, sagte etwa ÖGB-Präsident Erich Foglar in Göteborg. „Der Markt darf nicht alles diktieren.“
Große Unterschiede
In Europa gibt es nach wie vor große Unterschiede zwischen Nord und Süd, Ost und West - bei Wirtschaftskraft, Arbeitskosten, Kaufkraft und sozialer Absicherung. So lag das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf 2016 nach Daten der Statistikbehörde Eurostat in den 28 EU-Ländern bei durchschnittlich 29.000 Euro. In Luxemburg war es jedoch mehr als zweieinhalbmal so hoch, Bulgarien erreichte weniger als die Hälfte.
Die Initiative für den Sozialgipfel ging von Löfven aus, einem der wenigen verbliebenen sozialdemokratischen Regierungschefs in der EU. Vor den Wahlen im nächsten Jahr steht er unter Druck. Auch in Schweden hat mit den Schwedendemokraten eine rechtspopulistische Partei Zulauf.
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