Provinzstadt als progressives Zentrum
Kurz vor der Ausrufung der türkischen Republik durch Mustafa Kemal Atatürk im Jahr 1923 ist Ankara zur Hauptstadt des jungen Staates ernannt worden. Mit dem neuen Prestige wuchsen die Anforderungen: Aus der Provinzstadt sollte eine vom Westen inspirierte Metropole werden. Federführend beteiligt an der Transformation waren Architekten und Künstler aus Österreich.
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Der historische Verkehrsknotenpunkt, der seit jeher von militärstrategischer Bedeutung war, wurde bewusst als geografischer Gegenpol zu Istanbul gewählt, der Metropole des Osmanischen Reichs. Mit der Wahl Ankaras rückte die Hauptstadt ins Zentrum des Landes. Platz für Großvorhaben war genug. Nach einem verheerenden Brand im Jahr 1917 lagen viele Flächen brach. Architektonisch galt es, jenen Fortschritt zu veranschaulichen, den Atatürk dem Staat verordnet hatte. Zudem musste die Infrastruktur dringend ausgebaut werden: Zwischen 1920 und 1928 war Ankaras Einwohnerzahl von 25.000 auf 100.000 gestiegen.
Reformen auf allen Ebenen
Die Visualisierung der neuen Machtverhältnisse wurde in internationale Hände gelegt. Fündig wurde man vor allem im deutschssprachigen Raum, wo eine neue Sachlichkeit die Architektur revolutionierte und Funktionalität zum wichtigen Parameter geworden war. Ganz vorn dabei waren Planer aus Österreich, allen voran die Architekturikonen Clemens Holzmeister und Ernst Arnold Egli.

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Das türkische Parlament von Clemens Holzmeister
Atatürk trieb die Reformen auf allen Ebenen voran: Die Abschaffung des Kalifats, die gesetzliche Trennung von Staat und Religion, die Einführung des gregorianischen Kalenders, aber auch des lateinischen Alphabets sowie des türkischen Gesetzbuches nach europäischem Vorbild waren ab 1924 in weniger als vier Jahren vollzogen worden.
Althergebrachte Traditionen spielten auch bei der Neugestaltung Ankaras eine untergeordnete Rolle. Die Schnörkel und Ornamente historischer Bauformen mussten weichen, wenn es darum ging, die offizielle Türkei zu repräsentieren. Modern, sachlich und auf die Funktion konzentriert, so sollte sich die Hauptstadt präsentieren - das neue Ankara als bauliche Entsprechung zu Atatürks junger Republik.
Expansion nach Süden
Ein erster städtebaulicher Masterplan zur Struktur der neuen Hauptstadt entstand Mitte der 1920er Jahre. Er wurde schon bald überarbeitet: Zum ursprünglich geplanten Regierungsviertel kamen ein Botschafts- sowie ein Universitätsviertel und Wohnviertel. Um die Stadt sollte ein Grüngürtel verlaufen, daneben wurden Flächen definiert, auf denen zukünftige Wohnanlagen Platz finden sollten.
Die Entwürfe stammten von den deutschen Planern Carl Christoph Lörcher und Hermann Jansen. Die Kemalisten bedienten sich westlicher Stadtplanung, die für den türkischen Raum zuvor vollkommen unüblich war. Die historische Altstadt von Ankara, was davon nach dem Brand von 1917 übrig war, blieb unberührt, dafür expandierte die Stadt nach Süden, was auch mit Abbrüchen bestehender Gebäudesubstanz verbunden war. Das Signal war deutlich: Der neuen Türkei konnte sich nichts in den Weg stellen.
Holzmeister als Pionier
Ab dem Jahr 1927 realisierte Holzmeister mit dem Gebäude für das neue Verteidigungsministerium seinen ersten von vielen Großbauten für die offizielle Türkei. Das Verteidigungsministerium bildete auch den Auftakt zum neuen Regierungsviertel. Bereits in jungen Jahren war Holzmeister international bekannt geworden. Der gebürtige Tiroler hatte Anfang der 1920er in Wien mit einem Krematorium für den Zentralfriedhof für Aufsehen gesorgt und war im kommunalen Wohnbau der Stadt Wien mit dem Blat-Hof in Penzing planerisch tätig gewesen. In den späten 1930er Jahren entwarf er das ORF-Funkhaus in Wien.
Er galt als Vertreter der europäischen Moderne, dessen sachlichen Entwürfen mitunter ein gewisses Pathos innewohnte, was Atatürks Bedürfnissen sehr genau entsprach. Nüchtern, aber monumental musste es sein. Klare Linien definierten das Erscheinungsbild.
Das Langzeitprojekt Parlament
Bis Ende der 1930er realisierte Holzmeister mehrere Ministerien, Banken, Schulen und auch den Sitz des Staatspräsidenten inklusive der Inneneinrichtung. In Zentralanatolien entstand eine Insel der Moderne, an der im Lauf der 1920er und 1930er Jahre rund 40 Architekten und Künstler aus dem deutschsprachigen Raum arbeiteten.
Als Langzeitprojekt war Holzmeister ab 1938 bis zur Eröffnung im Jahr 1963 mit der Planung des Gebäudes des türkischen Parlaments beschäftigt. Holzmeister realisierte in Summe 14 Monumentalgebäude und war dabei keineswegs der produktivste der in Ankara tätigen Österreicher, die allerdings in seinem Schatten standen.
Produktiver Assistent
Egli, der ab 1924 in Wien Holzmeisters Assistent an der Akademie der bildenden Künste war, hat noch mehr Spuren hinterlassen als sein Mentor und Förderer - mit der Verwirklichung von rund 20 Großprojekten für die offizielle Türkei war er nicht nur auf baulicher Ebene sehr aktiv. Egli übte ab 1927 als Chefarchitekt des türkischen Unterrichtsministeriums Einfluss aus. Und ihm wurde die Leitung der Architekturabteilung der Akademie der Schönen Künste in Istanbul übertragen, die er nach dem Vorbild der Technischen Hochschule in Wien reformierte.
Als einziger der vielzähligen in Ankara tätigen Architekten aus dem deutschsprachigen Raum verlegte Egli seinen Lebensmittelpunkt in die Türkei. Für das Gebäude des mittlerweile umgezogenen Obersten Gerichtshofs war Egli ebenso verantwortlich wie für die Fakultätsgebäude für Landwirtschaft und Politikwissenschaft, aber auch für die Botschaften der Schweiz und des Irak. Für kurze Zeit übte Egli auch die Funktion des Chefarchitekten des türkischen Luftflottenvereins aus.
Es lag in der Strategie der türkischen Verantwortlichen, die ausländischen Architekten auch in die Lehre und in offizielle Funktionen einzubinden, um damit einen tiefgreifenden Reformprozess in Form des Einflusses auf junge türkische Architekten einzuleiten, die in den 1920er und 1930er Jahren von progressiven Kräften sozialisiert wurden.
Vor den Nazis geflüchtet
Auch Holzmeister lehrte Ende der 1930er Jahre als Professor an der Technischen Universität in Istanbul, was seine Ursache allerdings in der politischen Situation in Österreich hatte. Holzmeister war nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten an der Wiener Akademie der bildenden Künste entlassen worden. Er emigrierte in die Türkei, die ein gutes Verhältnis zu Nazi-Deutschland pflegte, doch ausländisches Expertentum für die junge Republik wog schwerer als Ideologie. Holzmeister kehrte erst 1954 dauerhaft nach Österreich zurück. Als Atatürks Haus- und Hofarchitekt genoss er in der Türkei auch nach Atatürks Tod 1938 eine privilegierte Position.
Auch Künstlerinnen und Künstler am Werk
Neben Holzmeister und Egli haben aber etwa auch die Bildhauer Anton Hanak, der einst mit Gustav Klimt und Josef Hoffmann gearbeitet hat, Heinrich Krippel und Josef Thorak Werke in Form von Denkmälern hinterlassen. Die aus der Steiermark stammende Keramikerin und Wiener-Werkstätte-Designerin Gudrun Bausch war in Ankara mit der baukünstlerischen Ausfertigung für Holzmeisters Sitz des Staatspräsidenten beschäftigt.
Und der als besonders progressiv geltende Wiener Architekt Robert Oerley, der bereits in Wien nach der Jahrhundertwende mit sachlichen Bauten und repräsentativen Villen für Aufsehen gesorgt hatte, errichtete in Ankara sein Spätwerk in Form von Großprojekten im Schul-, Gesundheits- und Infrastrukturbereich. Oerleys Markthalle für den Bezirk Ulus ist heute noch ihrem ursprünglichen Zweck gewidmet. Theodor Jost, ebenfalls Architekt aus Wien, plante das Gesundheitsministerium und ein Hygieneinstitut.

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Das Gesundheitsministerium von Theodor Jost
Doch so ambitioniert Atatürks Hauptstadt vom Reißbrett der 1920er und 1930er Jahre auch gewesen sein mag, auf große Gegenliebe der Bevölkerung ist die technokratische Architektur nie gestoßen. Ankara mit seinen breiten Straßen und sachlichen Monumentalbauten war das Gegenteil einer organisch gewachsenen osmanischen Stadt mit verwinkelten Gassen und der traditionellen Formensprache. Ankara gibt sich vergleichsweise steril und kalt. Zudem setzte die später entstandene Unzahl an klobigen Sozialbauten die frühe Moderne in einen schlechten Kontext.
Im Zeichen des Personenkults
Voll und ganz identifizieren konnten sich mit der wenig charmanten Retortenstadt nur wenige, was nichts daran ändert, dass Ankara auch heute boomt. Für Städtetouristen gibt es zwar attraktivere Ziele, ihre Funktionalität haben die Bauwerke allerdings eindrücklich bewiesen. Eine Vielzahl ist heute noch dem ursprünglichen Zweck gewidmet. Nur vereinzelt wurden Bauwerke abgerissen. Holzmeister, Egli, Oerley und Jost haben rund 40 große Projekte realisiert, und Bildhauer wie Hanak und Thorak haben eine Vielzahl an Denkmälern hinterlassen - der Bau des monumentalen Ankara war auch die Zeit des beginnenden großen Personenkults um Atatürk.
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Johannes Luxner, für ORF.at