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Programmierte Eskalation

Julian Pölsler legt nach „Die Wand“ seine zweite Verfilmung eines Romans von Marlen Haushofer vor, erneut mit der deutschen Charakterdarstellerin Martina Gedeck in der Hauptrolle zu sehen. „Wir töten Stella“ ist die minutiöse Schilderung eines angekündigten Todes.

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Anna (grandios gespielt von Gedeck) ist Mutter zweier bald erwachsener Kinder, Ehefrau eines erfolgreichen Anwalts und lebt in der ereignislosen Scheinidylle eines großbürgerlichen Haushalts in Wien. Als die junge Stella (Mala Emde), Tochter einer Freundin der Familie, in die Hietzinger Villa zieht, um an der Wiener Uni zu studieren, beginnt die Fassade gefährlich zu bröckeln. Die Eskalation ist programmiert.

Szene aus "Wir töten Stella"

Thimfilm

Stella (Mala Emde) und Richard (Matthias Brandt) beginnen eine Affäre

Annas Ehemann Richard (Matthias Brandt) ist ein notorischer Fremdgeher und macht auch vor dem juvenilen Hausgast nicht halt. Eine Affäre entspinnt sich, es folgen eine unerwünschte Schwangerschaft und eine erzwungene Abtreibung, die in die Katastrophe führen. Richard wird sein Tete-a-tete zu heiß, er lässt Stella fallen. Am Ende steht der Suizid des jungen Mädchens. Haben ihn alle sehenden Auges in Kauf genommen?

Szene aus "Wir töten Stella"

Thimfilm

Stella als Störfaktor im Bürgeridyll

Die Schuldfrage

Anna schreibt sich ihre Last in Form einer Beichte von der Seele. Sie sieht die Schuld nicht gegenüber Stella, ihrem Mann und ihren Kindern, sondern in der Unachtsamkeit gegenüber sich selbst, interpretierte Gedeck ihre Rolle im Gespräch mit ORF.at: „Wie gehe ich mit dem mir anvertrauten Leben um? Wie mute ich mich anderen zu? Wie stelle ich mich in die Mitte meines Lebens? Wie stelle ich mich auch angreifbar zur Disposition, indem ich zum Beispiel sage, das passt mir nicht. Das ist ein Lernprozess, und die meisten Menschen tun sich damit schwer.“

Szene aus "Wir töten Stella"

Thimfilm

Gedeck unter einer Kuppel: Querverweise auf „Die Wand“ finden sich zahlreich im Film

An diesem Punkt verortet die Schauspielerin auch die Relevanz des Films für unsere Zeit: „Auch wenn viele junge Frauen das nicht wahrhaben wollen. Die sagen, nein, so sind wir nicht mehr, das haben wir hinter uns. Das ist falsch, das ist nicht die Wahrheit.“ Charakterdarstellerin Gedeck trägt den Film mit ihrer kraftvollen Präsenz, in eindringlichen Großaufnahmen, oft einzig mit dem Ausdruck ihres Gesichts. Wie meistert sie die Herausforderung?

Szene aus "Wir töten Stella"

Thimfilm

Martina Gedeck als Anna, die mit ihrer Mitschuld am tragischen Schicksal Stellas fertigwerden muss

Gedeck: „Man muss schon sehr klar darüber sein, worum es hier geht, in welchem Gemütszustand sich Anna befindet. Man muss in diesen Gemütszustand hineingehen. Da kann man nichts künstlich herstellen, man muss das empfinden. Damit sich das auf dem Gesicht zeigt. Wenn sie Angst hat, nachdenklich ist oder glücklich, ist es besonders wichtig, dass man das auch empfindet. Da läuft ein innerer Monolog ab, dessen Sätze ich denken muss, die ich dann spreche.“

Szene aus "Wir töten Stella"

Thimfilm

Einzig zu ihrem Teenagersohn Wolfgang (Julius Hagg) unterhält Anna eine gute Beziehung. Welche Rolle spielt er bei der Tragödie um den jungen Hausgast Stella?

Sätze, die teils vorher auf Band aufgenommen und während des Drehs abgespielt worden seien, „sodass ich diese Sätze dann auch höre. Sodass ich weiß, das ist das, was ich denke. Die Voraussetzung dabei ist, dass man sich sehr mit dem Innenleben der Person beschäftigen muss. Dass man genau wissen muss, wo die Reise hingeht, wo sie anfängt, wo sie aufhört.“

Klassiker für Kinder

Zu Marlen Haushofer hat Gedeck früh gefunden: „Als Jugendliche schon hat mir meine Mutter ‚Die Wand‘ geschenkt. Beim Dreh habe ich ihr gesamtes Werk gelesen. Auch die Kurzgeschichten. Alles hängt ja bei ihr zusammen. Ihre Themen finden sich immer wieder. Wie kleine Kaleidoskopstückchen tauchen Teile des einen Buches im nächsten wieder auf. Wenn man das spielen will, muss man sich mit der Schriftstellerin wirklich beschäftigen. Über Stella nur zu wissen, der Mann betrügt sie und sie nimmt ein Mädchen auf, das dann stirbt, genügt nicht.“

Hilfe im Krisenfall

Berichte über (mögliche) Suizide können bei Personen, die sich in einer Krise befinden, die Situation verschlimmern. Die Psychiatrische Soforthilfe bietet unter 01/313 30 rund um die Uhr Rat und Unterstützung im Krisenfall. Die österreichweite Telefonseelsorge ist ebenfalls jederzeit unter 142 gratis zu erreichen.

Haushofers Kinderbücher wie der legendäre Zweiteiler „Brav sein ist schwer“ und „Schlimm sein ist auch kein Vergnügen“ wurden ebenfalls zu Klassikern. Ihr Gesamtwerk, das stets auch die Rolle der Frau in der Gesellschaft reflektierte, wurde jedoch von Gigantin Ingeborg Bachmann überstrahlt, bis die Frauenbewegung in den 80er Jahren die stille Radikale der österreichischen Literatur in ihrer Bedeutung neu entdeckte.

Ihrer Zeit voraus

Dabei war Haushofer, die 1970 im Alter von nur 49 Jahren an Knochenkrebs starb, ihrer Zeit voraus. Ihr Hauptwerk, „Die Wand“ von 1963, nahm vorweg, was Stephen King erst 2009 in dem später als „Under the Dome“ für Fernsehen adaptierten Roman „Die Arena“ einfiel: die emotionale Eingrenzung der Protagonistin hinter einer unsichtbaren Wand. Regisseur Pölsler wagte sich 2012 an den Stoff, der lange als unverfilmbar galt, und schuf - gleichfalls mit Martina Gedeck in der Titelrolle - eine ambitionierte Heimat-Dystopie, der nun, als Prequel, „Wir töten Stella“ folgte.

Haushofers Novelle von 1958 beschreibt minutiös, wie ein junges Mädchen hinter bürgerlicher Fassade in den Tod getrieben wird. Ein Narrativ, mit dem es die Netflix-Produktion „Tote Mädchen lügen nicht“ erst im März 2017 zur Serienkontroverse des Jahres brachte. Experten warnten vor dem Trittbrettfahrereffekt.

Momente der Irritation

Man spürt, wie die Vorlage den Geist des Widerstands gegen Enge und Doppelmoral der 50er Jahre atmet, als Scheidungen selten waren und Patchwork-Familie ein Fremdwort, als Abtreibung unter strenger Strafe stand, uneheliche Kinder - zumal in der österreichischen Provinz - als Schande galten. Pölsler verlegte das Szenario in die Gegenwart. Rockmusik, Handys und iPads wirken darin wie Fremdkörper aus einer anderen Welt. Als Finale seiner Haushofer-Trilogie hat Pölsler die Verfilmung von „Die Mansarde“ auserkoren. Man darf gespannt sein.

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