Spekulationen über Gründe
Heuer haben bisher mehr als 98.000 Flüchtlinge Italien erreicht. In den Sommermonaten Juli und August ging die Zahl aber deutlich zurück. Im Vergleich zum Vorjahr kamen mit 2.932 Flüchtlingen allein im August knapp 90 Prozent weniger Flüchtlinge an, wie aus Zahlen des italienischen Innenministeriums hervorgeht. Über die Gründe und die Rolle Italiens wird spekuliert.
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Die libysche Küstenwache führt den Rückgang vor allem auf intensivere Kontrollen im Mittelmeer zurück. Zudem hätten sich mehrere private Rettungsboote zurückgezogen, wodurch sich weniger Schlepperboote auf den Weg machen würden, sagte ein Sprecher der libyschen Küstenwache.
Neue Miliz in Libyen
Experten gehen jedoch davon aus, dass der Rückgang auch mit dem Aufkommen einer neuen bewaffneten Gruppe in Libyen zu tun haben könnte, die die Schmuggler am Ablegen hindert. „Wir können nicht sagen, ob es sich um eine lang anhaltende Entwicklung handelt“, sagte eine Sprecherin der Internationalen Organisation für Migration (IOM). „Es muss damit zu tun haben, dass weniger Flüchtlinge von der libyschen Küste ablegen.“
Es gebe Hinweise darauf, dass ein in der Region mächtiger Milizen- und Schlepperchef die Seiten gewechselt habe, sagte Mattia Toaldo, Libyen-Experte des European Council for Foreign Relations (ECFR), einer europäischen Denkfabrik. „Vielleicht hofft er, mehr Einfluss zu bekommen, wenn er dafür sorgt, dass die Flüchtlinge nicht mehr ablegen.“
Hilfslieferungen aus Italien
In Italien freut sich die sozialdemokratische Regierung über die aktuellen Zahlen - auch vor dem Hintergrund, dass bis spätestens im kommenden Frühjahr gewählt werden muss und Migration dabei das Topthema ist, das rechten und ausländerfeindlichen Parteien Zulauf bringt. „Wir sind noch in einem langen Tunnel. Aber zum ersten Mal habe ich begonnen, Licht am Ende des Tunnels zu sehen“, sagte Innenminister Marco Minniti unlängst. Er warnte jedoch zugleich, dass das „epochale“ Migrationsphänomen nicht gelöst sei.
Der Rückgang der Flüchtlingszahlen wird auch auf das Engagement Italiens an Land zurückgeführt. Es sei sehr wichtig gewesen, auf „der anderen Seite“ des Mittelmeers zu intervenieren, sagte Minniti. „Wir haben uns auf Libyen konzentriert, es schien sehr schwierig, aber heute scheint es, als würde sich etwas bewegen.“ Unter anderem unterstützt Italien libysche Kommunen mit Hilfslieferungen.
Immer wieder werden in Rom Delegationen mit Bürgermeistern und lokalen Politikern aus allen Regionen Libyens empfangen. Auch Minniti war deshalb schon in Libyen. Man wolle vor dem Hintergrund von Schlepperei Alternativen für Wachstum und Entwicklung bieten, hieß es in einer Erklärung. „Traditionell hat Italien gute Geheimdienstnetzwerke in Libyen mit guten Kontakten zu Bürgermeistern“, so Toaldo. „Die Frage ist aber, was mit den Schleppern passiert und ob sie nicht - wie schon einmal - andere Startpunkte suchen.“
Kritik von UNO-Menschenrechtlern
Libyen ist derzeit der wichtigste Abfahrtsort für Flüchtlinge, die versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. In dem Land herrscht nach jahrelangem Bürgerkrieg Chaos. Unzählige Milizen kämpfen um die Macht. Die Entwicklung bedeutet aber auch, dass die Flüchtlinge im Chaos des Bürgerkriegslandes und in teils unmenschlichen Zuständen festsitzen.
Zwei UNO-Menschenrechtsbeauftragte schlugen deshalb kürzlich Alarm: „Die Lösung kann nicht sein, den Zugang zu internationalen Gewässern zu verhindern“, kritisierten Felipe Gonzalez Morales und Nils Melzer in einem Bericht. Die beiden Sonderberichterstatter drückten ihre Sorgen aus, dass die EU versuche, die europäischen Grenzen nach Libyen zu verlagern.
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