Der ambivalente Comic-Star
Die Abenteuer von Tim und Struppi, die in der deutschen Fassung dieser Tage 50 Jahre alt werden, gelten als einflussreichstes europäisches Comic des 20. Jahrhunderts. Sein Schöpfer, der Belgier Herge, wird zum einen als künstlerisches Genie verehrt – zum anderen sorgte er mit vielen Inhalten für Debatten, die auch lange nach seinem Tod anhalten.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Herge, der als Georges Prosper Remi im Jahr 1907 in Etterbeek bei Brüssel geboren wurde, entdeckte bereits als Heranwachsender sein Interesse und sein Talent für das Zeichnen. Seine katholische Sozialisierung in Form eines ausschließlich von Priestern geleiteten Unterrichts gilt als prägend für sein späteres Leben. Während seiner Zeit bei einem katholischen Pfadfinderbund bereiste der junge Herge unzählige europäische Länder, was als massiver Einfluss für die späteren Abenteuergeschichten gilt.
Die reale Darstellung
Herges Ruf als künstlerisches Genie steht in erster Linie im Zusammenhang mit seinem weitreichenden Einfluss als Zeichner, der bis heute wirkt und nicht nur die französische und belgische Comic-Kultur geprägt hat. Der Zeichenstil „Lines claire“ leitet sich von Herges Art des Zeichnens ab, die eine klare Linienführung aufweist und auf eine höchst detaillierte Darstellung abzielt.
Der Begriff „Lines claire“ entstand noch zu Lebzeiten Herges im Jahr 1976. Die Zeichnungen sollen die Welt und ihre abenteuerliche Vielfalt möglichst realistisch abbilden. Ob Berglandschaften, Fahrzeuge oder Charakterdarstellungen: Herge zeichnete Großteils nach realen Vorbildern. Für authentische technische Darstellungen recherchierte er mitunter in Museen.

Carlsen Verlag (Montage)
Tim war mit Struppi oft international unterwegs - politisch unkorrekt
Technik, Exotik, Mobilität
Mit „Tim im Land der Sowjets“ ist im Jahr 1929 das erste Comic-Abenteuer rund um den jungen Reporter Tim - im belgischen Original Tintin genannt - und dessen Hund Struppi erschienen.
Auch das Strickmuster der Geschichten, die die Protagonisten des Comics rund um die Welt in exotische Gefilde führen und eine starke Neigung zu Technik und Mobilität demonstrieren, gilt als einflussreich, etwa was die späteren Abenteuer von Indiana Jones anbelangt. Herge ist aber auch Schöpfer der Comic-Serien „Stups und Steppke“, „Paul und Virginia“ sowie „Jo, Jette und Jocko“.
Kollaborateur der Nazis
Herges Zeichnungen wurden Anfang der 1920er erstmals in Zeitschriften publiziert, bald darauf entstand eine große Nähe zu katholisch-konservativen Kreisen, die Herge in jungen Jahren ebenso Aufträge einbrachte, und er hatte ab Mitte der 1920er Jahren enge Kontakte zu radikalen Jugendorganisationen in Belgien.
Für den späteren SS-Offizier Leon Degrelle illustrierte Herge im Jahr 1932 ein politisch einschlägiges Buch. Im von den Nazis eroberten Belgien ließ sich Herge bei einer Zeitung anstellen, die von Nazis geleitet wurde. Er illustrierte in deren politischem Sinn. Herge gilt als Kollaborateur und als politischer Opportunist, was sich auch in seinen Inhalten spiegelte.
Klage aus dem Kongo
„Tim im Kongo“ aus dem Jahr 1930 entstand vor dem Hintergrund der Stärkung des Bildes Belgiens als stolzer Kolonialmacht. Das Comic ist insbesondere in seiner Originalfassung offen rassistisch.
Die Bewohner des Kongos werden als durch die Bank minderbemitteltes Volk dargestellt, das starker Führung bedarf. Die Klage eines Kongolesen aus dem Jahr 2007, die darauf abzielte, das Buch auch in seiner entschärften Fassung verbieten zu lassen, wurde von einem Brüsseler Gericht 2012 abgewiesen.
Postume Auszeichnung in Tibet
Antisemitische Klischeedarstellungen in Herges Comics lösten bereits in den 1950er Jahren Debatten aus. Im Widerspruch dazu steht das höchste Lob, das der Dalai Lama Herge hinsichtlich des Bandes „Tim in Tibet“ ausgesprochen hat, das Wesentliches dazu beigetragen habe, dass Tibet generell stärker wahrgenommen wird. 2006 zeichnete der Dalai Lama Herge postum aus.
Im letzten Band von „Tim und Struppi“, der 1976 erschienen ist, wird Tim sogar zum Aktivisten, der eindeutig politisch links positioniert ist. Der britische Autor Tom McCarthy, der 2010 ein viel beachtetes Buch über Herge und dessen Familie verfasst hat, attestiert dem Künstler unterm Strich in erster Linie Naivität.
Links:
Johannes Luxner, für ORF.at