Sommer im Allerheiligenpark
„Wer sich auf die Decke setzt, ist willkommen“ – das ist während der Sommerferien das Motto im Wiener Allerheiligenpark. „Die Decke“ ist groß und bunt und unter einem Baum aufgebreitet, darauf stehen zwei Kisten mit Kinderbüchern, viele weitere liegen verstreut herum. Ein Bub sitzt mit dem Rücken an den Baumstamm gelehnt, den Kopf in ein Buch gesteckt.
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Seit 36 Jahren organisiert das Institut für Jugendliteratur das Projekt „Lesen im Park“. Dabei werden Bücher dorthin gebracht, wo viele Wiener Kinder einen großen Teil ihrer Ferien verbringen: in die öffentlichen Parks. In erster Linie will „Lesen im Park“ Spaß und Freude am Lesen vermitteln. Bücher können unkompliziert und ohne Ausweis ausgeborgt werden. Über 6.000 Besucherinnen und Besucher hatten die Lesestationen in vier Wiener Parks im vergangenen Sommer.
„Lesen im Park“
Lesestationen gibt es noch bis 1. September jeden Nachmittag ab 14.00 im Augarten im 2. Bezirk, im Alois-Drasche-Park im 4. Bezirk, im Auer-Welsbach-Park im 15. Bezirk und im Allerheiligenpark im 20. Bezirk.
Leseverhalten in der Familie prägt
Das Bedürfnis nach Lesen sei nicht angeboren, sondern müsse vermittelt werden, sagt Franz Lettner vom Institut für Jugendliteratur: „Das Vorhandensein von Büchern in einer Familie und das Vorbild von Familienangehörigen, die diese Bücher ganz regelmäßig und immer selbstverständlich nutzen, wird Kinder in der Regel entsprechend prägen und in ihnen ein Lesebedürfnis wecken.“
Bei der Frage, wie Kinder zu begeisterten Leserinnen und Lesern werden, kommt laut Lettner vieles zusammen: „Lesende und vorlesende Eltern, Bücher im Haus, die selbstverständlich genutzt werden. Das möglichst zügige Lernen des Lesens, damit der Vorgang des Lesens nicht so viel Mühe macht und man sich auf das Gelesene konzentrieren kann.“
Lesepaten an Schulen
Um Kindern beim Lesenlernen zu unterstützen, gibt es das Projekt Lesepate. Dabei kommen Freiwillige an Schulen, um mit Kindern gemeinsam zu lesen – in Deutsch und in anderen Erstsprachen der Schülerinnen und Schüler.
Und natürlich der institutionelle Bereich: „Kindergartenpädagoginnen und auch -pädagogen, die nicht nur oft, sondern auch mit Leidenschaft und Lust vorlesen. Lehrerinnen und auch Lehrer in der Grundschule, die überzeugend gute Lesevorbilder sind. Positive Leseerlebnisse – auch die richtigen Bücher zum richtigen Moment. Also eine Menge Glück.“
Parklife in der Brigittenau
Im Allerheiligenpark in der Brigittenau, nur wenige Gehminuten von der U-Bahn-Station Handelskai entfernt, warten mehrere Kinder am Nachmittag schon, dass die Decke unter dem großen Baum hinter dem Fußballkäfig ausgebreitet wird und die Bücher ausgepackt werden. Wie Leventin, der gleich um die Ecke wohnt. Er kommt während der Sommerferien fast jeden Tag. „Ich mag vieles hier: auf der Decke sitzen, reden, lesen, malen“, sagt der Zwölfjährige.
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ORF.at/Romana Beer
Leventin ist meist der Erste auf der Bücherdecke
Die angebotenen Bücher sind eine bunte Mischung: Aktuell erschienene Kinder- und Jugendliteratur und Bilderbücher finden sich genauso in der Kiste wie österreichische Klassiker von Christine Nöstlinger und Sachbücher. Studierende, oft angehende Volksschul- oder Kindergartenpädagogen, betreuen die Kinder bei den Lesestationen. Sie lesen den Kindern vor, plaudern, basteln und malen mit ihnen.
Deutsch als gemeinsame Sprache
Im Gegensatz zum Augarten, wo Kinder oft gemeinsam mit einem Elternteil zur Lesestation kommen, verbringen die meisten Kinder im Allerheiligenpark den Tag mit Nachbarskindern, Geschwistern oder alleine, so wie Leventin. Über den Sommer entstehen Freundschaften. Oft lesen ältere Kinder den jüngeren vor. Dass die Bücherdecke im Allerheiligenpark für viele der Kinder mehr als ein Ort zum Lesen ist, dafür sorgt auch Duha Ghazal, die die Lesestation betreut.
Viele Kinder kennen die 21-Jährige schon aus dem Vorjahr. Beim Wiedersehen in diesem Sommer sei die Freude auf beiden Seiten groß gewesen. „Gemeinsam zu lesen ist etwas Schönes“, so die Medizinstudentin, „aber die Kinder reden mit mir auch über ihre Probleme, sie erzählen von der Flucht aus ihrer Heimat, die sie hinter sich haben, oder einfach was sie am Wochenende gemacht haben.“
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ORF.at/Romana Beer
„Die Kinder vergessen einen nicht, auch wenn wir uns das ganze Jahr nicht sehen“, sagt Duha Ghazal
„Der Allerheiligenpark ist definitiv mein Lieblingspark“, sagt Ghazal, die zuvor auch schon in anderen Parks im Einsatz war. „Hier sind viele Kinder aus Syrien, aus Bosnien, aus Österreich und aus der Türkei. Sie sprechen verschiedene Sprachen, aber untereinander können sie nur auf Deutsch kommunizieren – und das tun sie. Sie reden über die Geschichten, die sie gerade gelesen haben“, erzählt Ghazal. „Und es ist ihnen egal, woher die anderen kommen. Hauptsache sie lesen, malen und spielen miteinander.“
„Das hat mit Chancengleichheit zu tun“
Wenn Kinder im Kleinkindalter nur wenig Kontakt zu Büchern hatten, sei es Aufgabe von Kindergarten und Schule, das auszugleichen, so Lettner gegenüber ORF.at: „Das ist notwendig. Das hat mit Chancengleichheit zu tun.“ Für viele Kinder seien Kindergarten und Schule die einzige Möglichkeit zum Lesen, zur Literalität zu finden. „Nicht jeder muss lesen, aber jeder muss lesen können können, wenn er das will.“
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KiWi-Taschenbuch
Daniel Pennac: Wie ein Roman. KiWi, 208 Seiten, 8,22 Euro.
Lettner verweist auf ein Buch des französischen Schriftstellers Daniel Pennac: „In ,Wie ein Roman – Die 10 Rechte des Lesers’ setzt Pennac als erstes Recht ‚das Recht, nicht zu lesen‘ ein. ‚Lesen‘, sagt er, ‚ist eine Freiheit, keine moralische Verpflichtung‘.“ Es sei natürlich keine Frage, dass Kinder lesen lernen müssen, so Lettner. Und lesen lerne man halt am besten durch Lesen: „Je mehr man liest, umso besser liest man – und um so mehr liest man aus den Büchern heraus oder in sie hinein.“
Auch Lara und Leen sind Stammgäste auf der Bücherdecke. Die Schwestern aus Syrien leben seit eineinhalb Jahren in Wien, gleich um die Ecke vom Allerheiligenpark. „Spielen, Lernen, Lesen“ machen ihr Spaß, sagt Lara. Ihr Lieblingsbuch – „Hexe Lilli“ – liest die Zwölfjährige am liebsten selbst. Während die anderen Kinder in der Bücherkiste stöbern, nimmt sich die achtjährige Leen das Recht, nicht zu lesen, und malt lieber ein Bild.
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