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Als das Web noch wild und bunt war

Vor genau 20 Jahren, am 24. Juli 1997, wurde ein Stück Mediengeschichte geschrieben: ORF.at ging online. Ein Blick in die vergangenen 20 Jahre zeigt die „blaue Seite“ auch als Spiegel rasanter Veränderungen in Sachen Medienkultur und Netzästhetik, von Revolutionen der Webnutzung und nicht zuletzt des Wandels im Journalismus. Schon der erste Blick birgt eine Überraschung. Denn bei aller Konstanz im Erscheinungsbild, für die ORF.at durchaus auch gescholten wurde: Am Anfang war ORF.at nicht blau.

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Die Website war lila. Als Vorgabe galt der Farbkreis des damaligen ORF-Designers Neville Brody. Die Herausforderung war allerdings, dass Grafikkarten und Monitore zum damaligen Zeitpunkt maximal 256 Farben darstellen konnten, davon wiederum waren nur 216 „websicher“. Das hieß, man konnte davon ausgehen, dass unterschiedliche Rechner und Browser die Farbe der Website annähernd gleich darstellen. Gewählt wurde dann ein Blau mit hohem Rotanteil. Also Lila.

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ORF.at am 24. Juli 1997

TV-Schirm als Gestaltungsmetapher

Bezeichnend ist das bis heute bestehende Layout-Konzept: die Bildleiste oben mit den größeren Artikeln und die Meldungsübersicht mit klaren Headlines darunter. Als Webauftritt einer Rundfunkanstalt scheint es logisch, eine Bildsprache zu wählen, die an nebeneinanderstehende TV-Schirme erinnert. Dass hier Zukunft gemacht wird, war dem Team um den langjährigen ORF.at-Chef Franz Manola klar.

„Das Internet den Österreichern vertraut machen“

Franz Manola, Gründer und langjähriger Chef von ORF.at, im Frühsommer 1997 zur Bedeutung des damals neuen Mediums.

Hohe Erwartungen und der harte Boden der Realität

Weit überzogene Utopien gab es im Silicon Valley und bei vielen Start-ups über die Welt verteilt. Das Internet schien unendlich viele Möglichkeiten zu bieten - vor allem um Geld zu verdienen. Die meisten davon zerschellten im März 2000 beim Platzen der Dotcom-Blase. Bis heute ist die Geschichte des Internets eine Geschichte vieler zu hoher Erwartungen und gescheiterter Geschäftsideen. Doch es gibt auch Erfolgsstorys - vor allem wenn man sich an der Realität orientierte.

1997 sah die Realität so aus: Gerade zwölf Prozent der Österreicherinnen und Österreicher über 14 Jahren nutzten das Internet, gerade die Hälfte davon „intensiv“. Intensiv hieß damals: mehrmals die Woche. Fünf Prozent verfügten zu Hause über einen Internetzugang - also ein Modem zum Einwählen per Telefon. 2001 waren es bereits 42 Prozent. Auch eine andere Zahl illustriert die technische Ausstattung: Im Juli 1997 besaßen gerade einmal 800.000 ein Handy - dabei hatte sich die Zahl seit dem Jahr davor verdoppelt.

Telefonmodem und Röhrenbildschirm

Die gerade briefmarkengroßen Bilder waren der langen Modemladezeit der User geschuldet, die aus heutiger Sicht grotesk große Leseschrift und schmalen Artikelspalten den Röhrenbildschirmen, mit denen man in den Anfangsjahren des Web die Sehkraft aufs Spiel setzte. Und von Anfang an bot ORF.at Videos an, ebenfalls in Minimalgröße und -auflösung – und im heute durchaus zu Recht vergessenen Real-Media-Format.

Doppel-O: ORF.at und Otto in der ZIB

Die ZIB im August 1997, die über ORF.at berichtete, gilt heute als legendär. Allerdings, weil damals Otto Waalkes als Studiogast geladen war und Moderatorin Ingrid Thurnher sichtbar alles abverlangte.

Die erste große Änderung erfolgte bereits 1999. Lila hatte ausgedient, es folgte das bis heute bekannte ORF.at-Blau - als neutrale und klassische Farbe, wie sie nicht nur immer wieder in Medienprodukten, sondern auch in der Kunst Anwendung findet.

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Der Abend der Nationalratswahl 1999 in ORF.at

Bunter Photoshop-Overkill

Auch die Headlines in den Bildern wurden systematisiert, die Titel standen nicht mehr irgendwo im Nirgendwo. Doch noch einige Zeit hielt sich der Photoshop-Overkill in der Bildsprache. „Wir haben es, wir können es, wir machen es“, war die der damaligen Medienästhetik folgende Devise, also wurde freigestellt und eingefärbt. Hauptsache bunt.

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Knallige Farben und viele Fotomontagen

Heute erinnert das Revival unsäglicher Farbverläufe bei Facebook-Schrifttafeln an damals. Bei ORF.at setzte sich nach einigen Jahren doch das journalistische Originalbild tatsächlich durch.

9/11 als Schlüsselereignis

Die Anschläge vom 11. September 2001 gelten als Schlüsselereignis für den Onlinejournalismus. Es war das erste globale Ereignis, bei dem Onlinemedien den Hunger der Öffentlichkeit nach neuen und tiefgehenderen Informationen stillen konnten. Die Vorherrschaft des linearen Fernsehens als primäre Informationsquelle in Echtzeit wurde erstmals herausgefordert.

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ORF.at am 11. September 2001

Onlinemedien konnten Schnelligkeit bei gleichzeitiger Informationstiefe bieten - doch es zeigte sich auch eines der Hauptprobleme des Web: das schnelle Zirkulieren ungeprüfter oder gar nachweislich falscher Spekulationen. Das Informationsbedürfnis der Leserinnen und Leser stellte auch die Serverkapazitäten von ORF.at auf die Probe. Zeitweise wurden die Bilder nur in Schwarz-Weiß angeboten, um das Datenvolumen geringer zu halten. Schon in den Jahren zuvor hatte ORF.at - wie die meisten Mitbewerber - ein rasantes Wachsen der Zugriffszahlen verzeichnet.

Google-Aufstieg und kurzer Blog-Hype

In den frühen Nullerjahren folgte im Onlinejournalismus eine weitere Professionalisierung und Konsolidierung. Das hielt viele Medien nicht davon ab, ihre Websites in fast manischer Manier immer wieder in neue Layouts zu pressen. Auch galt es, bei der Google-Suche erfolgreich vertreten zu sein: Ab 1999 hatte die Suchmaschine die frühere Konkurrenz von Altavista, Hotbot und Co. vom Markt verdrängt - welche Macht der Konzern später haben sollte, ließ sich damals aber kaum erahnen.

Für Medien schien zudem neue Konkurrenz aufzutauchen: Blogs waren en vogue, schon wurde vermutet, „Bürgerjournalisten“ könnten den Medienhäusern den Rang ablaufen. Die Revolution blieb aus, einige Blogger wurden später von den Medien inkorporiert, der Großteil schaffte es aber nicht, im Kampf um das Gut Aufmerksamkeit zu reüssieren, schon gar nicht in Österreich. Mit dem Aufkommen von Social Media sollten Blogs dann kurz in der Versenkung verschwinden, ehe sie vor einigen Jahren wieder auftauchten - allerdings vor allem im Lifestyle-Bereich und mit deutlicher Marketingschlagseite.

ORF.at ein bisschen runderneuert

2006 wurden ORF.at und die gelbe Sportseite runderneuert, vor allem weil der Ausrüstungsstand der Leserinnen und Leser mittlerweile ein gänzlich anderer war. Auch im privaten Bereich waren nach ihrem Preisverfall Flachbildschirme mit erheblich besserer Lesequalität praktisch Standard, die alten Röhrenbildschirme hatten ausgesorgt. Vor allem aber war die Versorgung mit leistungsfähigen Internetverbindungen flächendeckend. Die Bildleiste oben in ORF.at wurde damit signifikant größer, die Schrift kleiner und die Spaltenbreite ausgeweitet.

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ORF.at ist gewachsen

Der Aufstieg von Social Media

Ab 2006 folgten global aber gleich einige Revolutionen, die das Netz und seine Nutzung maßgeblich veränderten. Tim O’Reilly machte den Begriff Web 2.0 populär. Er sah das Internet vor allem als Plattform. Das war zwar alles nicht neu, der Begriff an sich erwies sich aber als Schlager, auch um den Ruf des Web nach der geplatzten Dotcom-Blase wiederherzustellen.

Der kurzzeitige Erfolg von Friendster und MySpace ebneten den Weg, 2006 wurden mit Twitter und Facebook jene beiden großen Sozialen Netzwerke gegründet, die das Web binnen kurzer Zeit veränderten. Twitter blieb zwar bis heute eher ein Elitenmedium, aber gerade im politisch-medialen Kontext ein enorm wichtiger Kommunikationskanal.

Facebook als Retter in der Krise?

Facebook wurde zum Massenphänomen und stellte klassische Onlinemedien vor ein Dilemma: Das Netzwerk ist einerseits Konkurrenz, andererseits wichtige Verteilungsplattform für Nachrichten. Mit dem als „Medienkrise“ beschriebenen Phänomen sinkender Absatzzahlen im klassischen Medienbereich, fehlenden Digitalstrategien und dem wirtschaftskrisenbedingten Einbruch auf dem Anzeigenmarkt mussten die meisten Medienhäuser nicht lange nachdenken.

Natürlich sind sie alle auf Facebook, genauso wie alle auf Google setzen - freilich nicht ohne sich über die beiden US-Konzerne zu beschweren. ORF.at verzichtet - bisher - auch nach der Aufhebung des „Facebook-Verbots“ durch das ORF-Gesetz von 2010 auf einen eigenen Auftritt auf dieser Plattform.

Plötzlich mobile

Eine noch weitreichendere Revolution fand 2007 statt - und erreichte 2008 auch Österreich: Apple brachte das iPhone auf den Markt und gab damit den Startschuss für die Smartphone-Revolution und den Siegeszug der mobilen Internetnutzung, der durch Android-Handys ab 2008 noch einmal beflügelt wurde. 2010 setzte Apple nach und brachte mit dem iPad den Zündfunken für den Tabletmarkt. Zahlreiche Nachrichtenwebsites setzten auf neue Layouts, um auf den zunächst boomenden Absatz zu reagieren. Vertrauend auf die Marktmacht und Innovationskraft Apples, optimierten viele Medien ihre Websites auf Tablets. Doch der Boom hielt – eigentlich erwartbar – nicht allzu lange.

Tablets blieben Zweit- oder Drittgerät, seit einigen Jahren ist der Markt gesättigt. Das Smartphone ist im mobilen Bereich weiter das Maß aller Dinge – Tendenz noch immer steigend. Und die Innovationsdynamik riss ab, alle weiteren Hoffnungsträger von Google Glass bis Apple Watch blieben Nischengadgets.

Alles neu 2010

Anders als bei vielen Webauftritten anderer Medien war der Smartphone- und Tabletboom kein zwingender Grund, die ORF.at-Website stark zu verändern. Zugegeben eher zufällig eignete und eignet sich das Layout auch perfekt für kleine Screens, ja fast so, also ob es von Anfang an dafür gemacht gewesen wäre.

2010 war dennoch das Jahr, in dem sich auch ORF.at runderneuert präsentierte. Die Bilderleiste wurde noch einmal vergrößert und klarer gemacht. Per Fettung hervorgehobene Wörter in Titeln verschwanden. Vor allem aber wich das Blau als Schrifthintergrundfarbe dem Weiß. Blau als Erkennungszeichen wurde dennoch erhalten.

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ORF.at im aktuellen Look, aber noch mit „alter“ Schrift: Der Triumph beim Song Contest 2014

Im Meldungsblock klappen sich seit damals die Nachrichten per Klick auf die Headline darunter aus. Neben den Neuerungen für die Leserinnen und Leser brachte das neue System aber vor allem für die Redaktion ein gänzlich neues - und wie immer firmenintern programmiertes - System, das perfekt auf den Produktionsalltag abgestimmt ist.

App hat man

Als Zusatzangebot wurde dennoch eine abgespeckte Mobilversion angeboten, deren Weiterentwicklung 2014 in eine App mündete. Schon damals war längst klar: Apps sind ein Must-have für Medienunternehmen, aber keineswegs die Heilsbringer und Killerapplikationen wie von zahlreichen Medienmanagern erträumt. Von einer praktisch völligen Verdrängung browserbasierter Inhalte wurde etwa fantasiert.

Eine Branche emanzipiert sich

Neben Mediendesign und veränderten Ausspielwegen entwickelte sich in den vergangenen Jahren mit einem ausdifferenzierten Onlinejournalismus eine neue Gattung. Auch hier gab es die eine oder andere Sackgasse und Irrung, doch entstand so etwas wie ein Kanon an Erzählformen, wozu ORF.at in Österreich durchaus seinen Beitrag geleistet hat.

Auch das Profil der Onlinejournalisten schärfte sich in den vergangenen Jahren. Dass zumeist aus Kostengründen klein gehaltene Redaktionsteams journalistischer Allrounder plötzlich den traditionellen Medien die Stirn boten, sorgte - nicht nur in der österreichischen Medienszene - durchaus für Irritationen bei der Kollegenschaft in den klassischen Medien. Die Haltung zwischen Abwertung („Das sind doch keine Journalisten“) und Ängsten („Das ist wohl die Zukunft des Journalismus“) ist mittlerweile allerdings fast verschwunden.

ORF.at-App

ORF.at

Die neue App ist seit wenigen Tagen erhältlich

Auch das Team von ORF.at, das nach wie vor als ausgegliederte ORF-Tochterfirma agiert, wuchs in den vergangenen Jahren notwendigerweise. Dennoch ist die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Vergleich zu anderen Medien erstaunlich gering - und das, obwohl sich an einem durchschnittlichen Werktag laut Österreichischer Webanalyse (ÖWA) 840.000 Menschen auf ORF.at informieren.

Sukzessive Weiterentwicklung

Auch in den vergangenen Jahren wurde ORF.at sukzessive weiterentwickelt: Die Bebilderung wurde ausgebaut, Bildformate wurden für neue Generationen von Mobilgeräten verbessert und die Einbindung von Videos ausgebaut. Ein Arbeitsschwerpunkt wurde auf die Entwicklung von Infografiken und den Einsatz von Kartenmaterial gelegt. Seit dem Frühjahr 2015 wird eine eigens für ORF.at entwickelte Schriftart verwendet.

Auch ein Liveticker gehört zum Standardrepertoire der Website - auf diese Weise wurde durchgehend aus dem Hypo-Untersuchungsausschuss berichtet, aber auch von großen Wahlen, wichtigen Kulturevents und freilich im Falle plötzlich hereinbrechender großer Nachrichtenereignisse. Eine der jüngsten Entwicklungen, „Vollformat“, gibt regelmäßig breiteren Raum für besondere Themen.

Mit „Being President“ näherte sich ORF.at der Bundespräsidentschaftswahl auf etwas unkonventionellere Weise an, und - so viel sei verraten - Ähnliches wird es auch zur Nationalratswahl im Herbst geben. Und seit einigen Tagen ist die runderneuerte App verfügbar - sowie ein Notifikationssystem, das bei besonders wichtigen Nachrichten auf Wunsch eine Meldung sendet.