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Establishment im Abmarsch?

Klare Verhältnisse nach der Parlamentswahl. Das hat sich Frankreichs neuer, noch junger Staatschef mit seiner neuen Politbewegung La Republique en Marche gewünscht. Und dank Mehrheitswahlrechts genügen schon gut 30 Prozent nach der ersten Runde, um in einer Stichwahl eine mehr als absolute Mehrheit bei den Mandaten zu erreichen.

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Eigentlich wäre das französische Wahlsystem sehr bürgernah. Denn pro Wahlkreis wissen die Wahlberechtigten, welchen Kandidaten oder welche Kandidatin sie aus ihrem Heimatwahlbezirk in die französische Assemblee nationale schicken. Doch es gilt das Wort „wäre“: Denn in Frankreich haben sich etablierte Politiker aus künstlichen oder wahltaktischen Gründen entschieden, in einem bestimmten Bezirk zu kandidieren.

Dass etwa Marine Le Pen im französischen Norden antritt, hat wenig mit ihrer Herkunft zu tun: Sie stammt aus dem Reichenvorort Neuilly-sur-Seine, in dem einst ein gewisser Nicolas Sarkozy Bürgermeister war. Und auch der linke Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Melenchon hat sich mit Marseille einen vor allem nach seinen taktischen Überlegungen gelegenen Wahlkreis gesucht - und im Feld der Linken auch für Kopfschütteln gesorgt.

Eine der ersten amerikanischen Ballotage-Wahlurnen

Public Domain

„Ballotage“ nennt sich die Stichwahl im Rennen um die Parlamentssitze in Frankreich. Über Kugeln, wie hier bei dieser US-Kugelungsmaschine, wird in Frankreich aber nicht mehr abgestimmt. Statt der Kugeln addiert man aber Wahlzettel für den einen oder anderen Kandidaten.

In der Vergangenheit war Melenchon 2012 gegen Le Pen in „deren“ Wahlkreis Henin-Beaumont angetreten, bei der letzten Europawahl hatte er sich wiederum für den französischen Südwesten entschieden.

Die sehr freizügige Wahl des Wahlkreises

Die künstliche Wahl eines Wahlkreises hat in Frankreich quer durch alle Parteien Tradition. Oft ist man auch noch Bürgermeister einer mehr oder weniger großen Kommune neben seiner Funktion als Parlamentarier. Nichts, was es in anderen Ländern nicht auch gäbe. Aber man stelle sich zum Vergleich vor: Ein Wiener kandidiert für seine Partei in einem Tiroler Wahlkreis. Und ist als Wiener daneben noch Bürgermeister in einer kleinen Gemeinde in diesem Wahlkreis. Leichtes Befremden wäre wohl der gnadenvollste Ausdruck für solche Politmoves.

De Gaulle und die Folgen

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In Frankreichs Fünfter Republik, die ja aus dem gescheiterten Parlamentarismus der 1950er Jahre mit einem überdominanten Staatschef an der Spitze entstanden ist, gibt es gerade für das Parlament eine nebengeordnete Rolle. Sind die Verhältnisse für den Staatschef klar geregelt, also die Mehrheit für die vom Präsidenten eingesetzte Regierung klar, dann kann auch regiert werden.

Ehemalige Stierkämpferin Marie Sara

APA/AFP/Sylvain Thomas

Von der Stierkampfarena in die Politik: Marie Sara soll im schwierigen Süden Frankreichs punkten

Doch Frankreich kennt auch Zeiten der „Cohabitation“, also anderer Mehrheiten im Parlament gegen den Präsidenten und die von ihm ernannte Regierung. Und es gibt auch den Fall der Amtszeit von Francois Hollande, wo man teilweise nicht mehr die eigenen Leute überzeugen konnte, mit Gesetzesvorgaben mitzuziehen. Insofern könnte man sagen: Der Parlamentarismus in Frankreich ist erwachsen geworden.

Hollande und das abgesagte Mehrheitswahlrecht

Eigentlich ist Hollande auch mit dem Wahlversprechen im Elysee angekommen, das französische Wahlrecht zu reformieren und zumindest einem partiellen Verhältniswahlrecht zum Durchbruch zu verhelfen. Das war 2012. Und war vor allem ein Versprechen an die zentristische Partei Mouvement Democrate (MoDem), die damals Hollande gegen Sarkozy unterstützte - und die jetzt unter dem Vorsitzenden Francois Bayrou im Rerformlager von Präsident Macron steht.

Ergebnisse des ersten Durchgangs der französichen Parlamentswahl

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Die Erwartung, dass nach einer Parlamentswahl 2017 gut 100 Abgeordnete des Front National (FN) in der Assemblee sitzen würden, hat Hollande 2015 überzeugt, dieses Wahlversprechen fallenzulassen - zumal er als Präsident auch mit anderen Reformvorhaben mehr schlecht als recht vorankam.

Dass diesmal die Wahlbeteiligung so niedrig ist, mag man mit einer Politikmüdigkeit der Franzosen eben von diesem System begründen. Im Jahr 2007 hatten 91 Prozent der Abgeordneten der Assemblee mindestens ein oder mehrere andere politische Mandate.

Duelle oder Dreikämpfe

Viele Player des französischen Politestablishments sind in der ersten Runde der Parlamentswahlen schon aus dem Rennen der „Ballotage“. Für diese qualifiziert sich, wer entweder 12,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinen kann oder mit relativer Mehrheit auf Platz eins oder zwei in einem Wahlkreis landet. Es gibt also Zweier-, manchenorts aber auch Dreierwahlduelle. Und nur in vier Wahlkreisen konnte schon im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit, die man für ein Mandat in der Assemblee braucht, erzielt werden.

Mit besonderer Aufmerksamkeit schaut man darauf, wie viele der neuen Kandidatinnen und Kandidaten aus der Zivilgesellschaft nun das Rennen machen. In den Reihen von Macrons neuer Bewegung werden Politneuligen sitzen. Ein Phänomen, das es schon einmal gab, als nach dem Wahlsieg Francois Mitterrands gewählt wurde und dieser nach Jahrzehnten konservativer Herrschaft neue Köpfe auch für die Nationalversammlung brauchte.

Neulinge und bunter Überläufer

Dass für das Macron-Lager nun auch die Stierkämpferin Marie Sara im Süden Frankreichs antritt - und im Umland von Paris der frühere Chef der Polizeieliteeinheit RAID, Jean-Michel Fauvenarge, in der „Ballotage“ ist, wird als geschickter wie populärer Schachzug gewertet. Die künftigen Parlamentarier müssten „aufmerksam betreut werden, um ein Durcheinander zu verhindern“, ätzt schon der „Canard enchaine“ über die neue Generation von Abgeordneten.

Buntester Überläufer ins Lager von Macron ist bei dieser Wahl der Mathematiker und Physiker Cedric Villani. Im fünften Wahlbezirk des Departements Essonne erhielt er über 47 Prozent im ersten Wahlgang. Früher trat der über das Fernsehen bekannte, dandyhafte Wissenschaftler für die Sozialisten an. Jetzt ist er wie so manch anderer Sozialist rechtzeitig in das Lager des Erfolgs übergelaufen.

Wie hoch wird die Wahlbeteiligung?

Gespannt darf man sein, wie hoch die Wahlbeteiligung in der zweiten Runde ist. Mit 48,7 Prozent ist sie in der ersten Runde auf einen historischen Tiefststand gesunken. Für Macron wird die Frage der Absoluten jedenfalls schwerer wiegen als die Frage der Wahlbeteiligung, mit der seine „Revolution“ getragen wird. Ohnedies weiß jeder reformorientierte Politiker in Frankreich, dass er vor allem auch den Druck von der Straße in den kommenden fünf Jahren spüren wird.

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