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„Nostalgie ist eine Krankheit“

Ilija Trojanow erzählt im Interview mit ORF.at über geplante Bücher, sein Engagement beim PEN-Club, sein aktuelles Buch und warum bei ihm die Ankunft nach der Flucht ausgefallen ist.

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ORF.at: Wovor sind Sie zuletzt geflüchtet?

Ilija Trojanow: Ich bin, glaub ich, noch nie vor etwas geflüchtet.

ORF.at: Nicht mal vor dem Regen?

Trojanow: Nein, ich mag Regen. Mir fällt jetzt ehrlich gesagt nichts ein. Ich würde es nicht als Flucht bezeichnen, wenn man bei Kälte ins Warme geht oder, wenn man nass ist, ins Trockene. Da ist das Wort Flucht zu groß. Ich würde eher von Aufbruch sprechen. Mein Leben ist voller Aufbruch.

ORF.at: Sie eröffnen Ihren Essay mit der Widmung „Meinen Eltern, die mich mit der Flucht beschenkten“. Worin besteht dieses Geschenk für Sie genau?

Trojanow: Ich wurde erstens mit Vielfalt beschenkt, zweitens mit Veränderung, drittens mit einer dynamischen Identität, die sich in den letzten 45 Jahren extrem geändert hat. Wenn ich mir überlege, in was für unterschiedliche Sprachen, Kulturen, Regionen, Religionen ich hineingekommen bin, vieles davon hätte ich ohne die Flucht verpasst.

Das ist das eine, das Zweite ist aber, dass ich als Kind in der Situation war, dass die entscheidende Veränderung meines Lebens nicht von mir selber ausging, sondern von meinen Eltern. Ich musste dazu eine Beziehung aufbauen. Ich musste das in irgendeiner Weise als Erwachsener nachträglich gutheißen.

ORF.at: Ihr Buch wurde von Jacob Lawrences „The Migration Series“ inspiriert und enthält auch zwei der 60 Panels. Welche Parallelen zwischen der „Great Migration“ und der heutigen Flüchtlingsbewegung sehen Sie?

Trojanow: Ganz einfach, ich habe an der NYU (New York University, Anm.) unterrichtet, ich war im MoMA und habe mir die Bilder angesehen, und obwohl man annehmen könnte, das sei eine völlig andere Zeit, andere sozioökonomische Bedingungen, hatte ich das Gefühl, diese 60 Panels beschreiben auch mein Leben.

Das war die Initialzündung. Unabhängig von den Epochen, den Gründen für die Flucht, von den politischen und ökonomischen Strukturen gibt es etwas Grundsätzliches, was die Flüchtlinge und die Geflüchteten, diese Unterscheidung ist wichtig, auszeichnet.

ORF.at: Sie erzählen in Ihrem Buch davon, dass Christo, obwohl selbst aus seinem Land geflohen, verweigert, Flüchtlinge für die Verhüllung des Pont Neuf anzustellen. Auch eines der Panels von Lawrence behandelt die Ablehnung gegenüber den Neuankömmlingen durch jene Afroamerikaner, die schon länger im Norden leben. Wie erklären Sie sich solche Impulse?

Trojanow: Es gibt offensichtlich bei vielen Menschen ein Bedürfnis, das, was man im Leben erreicht hat, als Resultat eigener Leistung zu verbuchen und nicht zu akzeptieren, dass man in vielerlei Hinsicht Nutznießer war, von soliden gesellschaftlichen Unterstützungsmechanismen, von all den Hilfeleistungen, die einem die Menschen entlang des Weges gegeben haben. Deswegen kommt ein Automatismus zustande, den ich, nicht nur in Europa, sondern auch in Afrika immer wieder höre: Ich hab mich durchgebissen, warum soll man denen jetzt den roten Teppich ausrollen?

Das ist aber doppelt falsch. Erstens stimmt es nicht, dass sich alle durchgebissen haben, in Europa haben sie immer Hilfe bekommen, sowohl staatliche, als auch individuelle, und zweitens stimmt es nicht, dass den Flüchtlingen jetzt ein roter Teppich ausgerollt wird, im Gegenteil.

ORF.at: Bleiben wir gleich bei verschobenen Realitäten. Sie beschreiben die Nostalgie des Geflüchteten gegenüber seinem Heimatland ähnlich einer Krankheit oder einer Sucht. Haben Sie das persönlich so erlebt?

Trojanow: Ich habe das persönlich so erlebt. Ich habe erlebt, dass man in einer Zeit, in der man sehr unsicher ist, Pubertät und dann Beginn des Studiums, dass ich mich in meiner Verlorenheit und Einsamkeit tatsächlich einer sehr intensiven Nostalgie ergeben habe. Und ich war in München Teil einer Gruppe von Studenten, die alle aus Osteuropa kamen, und das war die dominante Gefühlslage bei uns allen.

Danach habe ich in Paris bei meinem Onkel gelebt, wieder unter Emigranten, und es herrschte auch bei diesen eine unglaublich dominante Nostalgie. Die Nostalgie ist tatsächlich eine Krankheit, denn sie beruht auf einer weltfremden Konstruktion der untergegangenen Heimat. Die man ja nicht mehr kennt, deren Realität nicht mehr aktualisiert ist.

ORF.at: Das Heilmittel sind laut dem Text Reisen in dieses Heimatland.

Trojanow: Genau, das ist die vermeintliche Heilung, und ich habe das so oft gehört, Heimkehr ist der größte Kulturschock. Das ist eine Erfahrung, die sicher viele von uns gemacht haben, vor allem, wenn es eine längere Trennung ist, nicht ein oder zwei Jahre, sondern acht, zehn oder in meinem Fall 18 Jahre, das ist nicht mehr die eigene Heimat, die von der Nostalgie wie eine exotische Blume gezüchtet wurde, das ist etwas Bedrohliches, Enttäuschendes, Widerliches, Ekliges und so weiter.

Und das ist wichtig zu wissen, weil die Einheimischen glauben, es sei so klar, man könne ja zurückkehren. Das kommt ja ständig, auch in der Politik. Darum ist es auch so ein Blödsinn, was in Österreich eingeführt wurde, mit dem zeitlich begrenzten Asyl. Erstens ist es gesellschaftlich kontraproduktiv, wie soll ein Arbeitgeber damit operieren, dass jemand, den er anlernen muss, wenn der Bürgerkrieg vorbei ist, zurückgeschickt wird?

Und für den Menschen an sich ist es eine absolute Katastrophe, es ist zutiefst inhuman, denn nichts ist schlimmer als diese Auszeit. Stellen Sie sich vor, Sie sind an einem Bahnhof und dürfen keinen Zug besteigen, und Sie wissen nicht, ob Sie einen Monat oder ein Jahr oder fünf oder zehn Jahre an diesem Bahnhof aushalten müssen. Da würde jeder verrückt werden. Das zu institutionalisieren ist für mich unfassbar.

ORF.at: Welche Maßnahmen würden es Ihrer Meinung nach den Geflüchteten erleichtern anzukommen?

Trojanow: Das ist ja keine Raketentechnik, das ist relativ einfach. Erstens Sprachkurse. Jahrzehntelang hat man gesagt, wir wollen die nicht bilden, die waren ja hier um schlecht bezahlte, schmutzige Arbeit zu machen und nicht irgendwie Akademiker zu werden. Und jetzt jammert man über Parallelgesellschaften, und die Leute seien sprachlich nicht auf dem Niveau, deswegen würden sie sich selbst ghettoisieren, und – was für ein Wunder – die Kinder sind auch nicht auf dem sprachlichen Niveau, weil sie von zu Hause keine Sprachkompetenz mitkriegen.

Zweitens: die Öffnung des Arbeitsmarktes. Die Überreglementierung der Gesellschaft hat auch Nachteile. Wie oft sitzen Sie im Taxi bei einem Fahrer aus Kasachstan oder Tschetschenien, der eigentlich von der Ausbildung her Zahnarzt ist. All das geht der Gesellschaft verloren, weil es unglaublich viele Regularien gibt. Ein Problem ist auch die grundsätzliche Vermutung, jemand, der von woanders herkommt, hat eine schlechtere Ausbildung erfahren.

Die große Aufgabe ist Vorurteile abzubauen. Jede Zeitung, die sie heute lesen, jeder Beitrag, jeder Artikel, jede politische Diskussion ist in einer deprimierenden Weise von Vorurteilen geprägt. Es ist unglaublich schwer, bei diesem Thema einen vorurteilsfreien Diskurs zu führen. Das ist auch der Grund, warum ich dieses Buch geschrieben habe, weil es viele vermeintliche Wahrheiten auf den Kopf stellt.

ORF.at: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass jeder Geflüchtete auf seine Weise ankommt. Wann und auf welche Weise sind Sie nach der Flucht angekommen?

Trojanow: Ich hatte keine Zeit anzukommen, meine Biografie ist ja wirklich extrem schräg, weil wir immer wieder weitergezogen sind. Italien, Deutschland, Kenia innerhalb eines Jahres. Dann in Kenia deutsche Schule, englische Schule, also mit Sprachwechsel. Dann Deutschland, dann wieder Kenia, dann Paris, dann Deutschland.

Aufgrund dessen hatte ich wirklich keine Zeit anzukommen. Beziehungsweise zu dem Zeitpunkt, als ich dann hätte ankommen können, war ich so völlig geprägt von ständiger Veränderung, dass das für mich die Norm und die Realität war. Insofern fiel bei mir das Ankommen aus. Das ist aber sehr eigen bei mir, das kann man nicht verallgemeinern.

ORF.at: Sie leben seit 2008 in Wien, das ist für Ihre Verhältnisse schon sehr lange für eine Stadt.

Trojanow: Das ist für mich schon sehr lange, aber ich bin auch die Hälfte der Zeit nicht da. Erstens wird man älter und bequemer, und zweitens hat das auch damit zu tun, wie erfolgreich man ist. Ab einem gewissen Erfolgslevel kann man es sich leisten, das Jahr so zu organisieren, dass man die Hälfte der Zeit unterwegs ist und die Hälfte der Zeit hier.

Bevor das möglich war, musste ich nach Indien ziehen, hatte noch gar nicht das Geld, gleichzeitig die Miete hier weiterzuzahlen. So gesehen waren das viel radikalere Aufbrüche. Jetzt sind die Aufbrüche zwar geistig immer noch intensiv, aber sie sind nicht mehr existenziell radikal. Ich habe meine Bibliothek in Wien und ich weiß, wohin ich zurückkehre.

ORF.at: Seit gut zwei Wochen sind Sie Teil des Präsidiums des deutschen PEN-Zentrums. Was sind Ihre Beweggründe, sich hier zu engagieren?

Trojanow: Josef Haslinger hat vier Jahre lang sehr gute Arbeit geleistet. Er, aber auch andere haben mich gebeten, dass ich hier eine aktivere Rolle übernehme. Ich fand das einleuchtend, dass ich diese gute Arbeit ein bisschen fortführe. Die Sache ist die, wenn man, so wie ich, seit Jahrzehnten laut und deutlich die Notwendigkeit des kritischen Intellektuellen und des engagierten Schriftstellers propagiert, dann ist man natürlich manchmal gefangen in gewissen Verpflichtungen. Dann kann man sich nicht einfach drücken.

Außerdem darf man die Gefahren für die freie Meinungsäußerung bei uns nicht unterschätzen. Es ist einfach, das Evidente zu sehen. Wenn Kollegen von uns in der Türkei im Gefängnis sitzen oder in Russland erschossen werden. Was bei uns passiert, ist erheblich komplexer, nicht so sichtbar, aber auch gefährlich. Überwachung, Ökonomisierung, technologische Manipulation, die ganze Art und Weise, wie kritische Journalisten durch Prozesse mundtot gemacht werden sollen. Es gibt sehr, sehr viele nicht ganz so spektakuläre Baustellen, denen wir aber trotzdem Aufmerksam schenken müssen.

Das ist auch eine Sache, die die Präsidentschaft von (Donald, Anm.) Trump zeigt. Wir sehen dieser Tage, wie immens wichtig eine freie Presse ist. Fast alles, was wir an täglichen Schweinereien, das wir zu hören bekommen, all das wüssten wir ohne eine freie Presse nicht. All das wäre in Russland niemals in die Öffentlichkeit gelangt. Und wenn wir jetzt unter Umständen einer FPÖ-Regierung in diesem Land entgegensehen, was ja nicht ausgeschlossen ist, dann möchte ich natürlich eine möglichst starke Öffentlichkeitsfront haben, um die ganzen Schweinereien, die kommen werden, aufzudecken.

ORF.at: Von der politischen Arbeit zur schriftstellerischen: Was sind Ihre nächsten Projekte, woran schreiben Sie gerade?

Trojanow: Ich schreibe einen utopischen Roman. Es ist Zeit, mir geht dieser ganze Defätismus und Pessimismus total auf den Wecker. Man muss auch mal so eine wirklich grandiose Version aufschreiben. Was passiert, wenn sich das menschliche Potenzial mal tatsächlich entwickelt und entfaltet.

Und ich schreibe ein Sachbuch über Hilfe, eine große Panoramareflektion über die Mechanismen der Hilfe. Wir fragen bei dem Thema nicht oft genug, was wirklich progressiv ist, was Missstände wirklich überwindet, was wirklich gerecht ist. Nicht oft genug stellen wir die wirklich brutale Frage, ob das nachhaltig ist. Wir stellen eher die emotionale Frage, ob es was Gutes ist, und wir nehmen an, das Geben und das Helfen seien per se was Gutes. Wenn das Geben aber strukturelle Gewalt verwurzelt und stabilisiert, ist es eigentlich kontraproduktiv.

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