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Ankunft, die Utopie aller Geflüchteten

„Nach der Flucht“ heißt Ilija Trojanows neues Buch. Schon der Titel macht klar, dass es nicht um den Moment der Flucht geht, sondern um das Danach, darum, was die Flucht mit den Menschen gemacht hat und wie diese damit umgehen. Das hat der Autor nicht in einen Roman verarbeitet, sondern stattdessen einen Grundsatztext über die Flucht geschrieben.

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Trojanow wird mit diesem Buch einen Beitrag zur aktuellen Flüchtlings- und Migrationsdebatte leisten, allerdings wäre es vermessen zu glauben, er würde Antworten bieten, geschweige denn einfache Antworten. Gleich in der Vorbemerkung des Buches postuliert Trojanow, dass „Nach der Flucht“ für die Geflüchteten ein Dauerzustand ist. „Es gibt ein Leben nach der Flucht. Doch die Flucht wirkt fort, ein Leben lang.“

Und man ist gewillt, dem Mann zu glauben, denn er weiß, wovon er spricht. Seine Biografie ist auch für einen Geflüchteten außergewöhnlich unstet, selten hat er mehr als fünf Jahre am Stück in einem Land gelebt. 1965 in Bulgarien geboren, floh er mit seinen Eltern 1971 über das ehemalige Jugoslawien und Italien nach Deutschland. Bereits ein Jahr später ging es für die Familie weiter nach Kenia. Nach fünf Jahren in Nairobi folgten drei Jahre Deutschland, nochmal drei Jahre Kenia und ein Abstecher nach Paris. Von 1984 bis 1989 studierte Trojanow Jus und Ethnologie in München.

Der Büchersammler

Nach dem Studium unternahm er ausgedehnte Reisen durch Afrika und schrieb erste Bücher über diese Reisen. 1996 erschien sein erster Roman „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“, der die Erfahrungen einer Flüchtlingsfamilie in einem italienischen Asylwerberheim schildert. In den folgenden Jahren reiste und schrieb er fast pausenlos. Über 20 Bücher hat er seit 1993 veröffentlicht. Er beschrieb seine Teilnahme an der Hadsch, seine Reise entlang des Ganges und seinen ersten Bulgarien-Besuch nach achtzehn Jahren Abwesenheit.

Der Durchbruch gelang Trojanow 2006 mit dem Roman „Der Weltensammler“ über den britischen Offizier Sir Richard Francis Burton. Das Buch war ein großer Erfolg und gewann den Preis der Leipziger Buchmesse. 2009 legte Trojanow gemeinsam mit Juli Zeh das Buch „Angriff auf die Freiheit“ vor, das sich mit dem Verhältnis zwischen staatlicher Überwachung und bürgerlichen Rechten und Freiheiten beschäftigt. Zuletzt erschienen mit „Macht und Widerstand“ (2015) ein Roman über die bulgarische Diktatur und mit „Meine Olympiade“ (2016) eine Beschreibung seines Versuchs, alle olympischen Einzeldisziplinen zu absolvieren.

Kaleidoskop der Geflüchteten

„Nach der Flucht“ ist in 198 sehr heterogene Abschnitte unterteilt. Ihre Länge variiert zwischen einer Zeile und einer Seite, manche hängen inhaltlich lose zusammen, andere sind nur durch das Überthema verbunden. Erst im Zusammenwirken entfalten diese Schnipsel ihre Wirkung. Die Inspiration dazu geht auf Jacob Lawrences „The Migration Series“ zurück. Auf dem Cover und in der Buchmitte ist jeweils eines der 60 Gemälde aus dem Zyklus, der seine Kraft ebenfalls aus der Zusammenwirkung seiner Teile bezieht, abgebildet.

Lawrences Werk stammt aus dem Jahr 1941 und beschäftigt sich mit der „Great Migration“, der Abwanderung der afroamerikanischen Bevölkerung während und nach dem Ersten Weltkrieg aus dem ländlich geprägten Süden der USA in die Industriestädte des Nordens. Lawrence traf mit „The Migration Series“ den Nerv der Zeit und wurde quasi über Nacht berühmt. Noch im selben Jahr war der zu diesem Zeitpunkt 24-Jährige der erste afroamerikanische Künstler, der in einer ständigen Ausstellung im Museum of Modern Art (MoMA) zu sehen war.

Anleitung zur illegalen Einreise

Trojanows Textschnipsel sind auch inhaltlich sehr unterschiedlich. Von kurzen, mit „Dramolett“ überschriebenen Dialogen über Erzählpassagen bis zu reflexiven Abschnitten und einzelnen Zitaten versucht Trojanow sein Thema einzukreisen. Einige Texte sind seiner eigenen Biografie entnommen, andere speisen sich aus seinen unzähligen Gesprächen mit anderen Geflüchteten. Ein Abschnitt beschreibt Trojanows Schlüsselerlebnis bezüglich illegaler Grenzüberschreitungen.

In den späten 1980er Jahren, er war damals staatenloser Student mit Flüchtlingspass, wurde er, aus Italien kommend, am Grenzübergang Brenner vom österreichischen Zoll aus dem Zug gefischt. Ihm fehlte ein Visum. Wie er Freitagnacht und pleite auf das Mailänder Konsulat und wieder zurückkommen sollte, interessierte die Grenzpolizei naturgemäß wenig. In seiner Not nahm ihn schließlich ein Lkw-Fahrer mit über die Grenze. Der Abschnitt endet mit dem folgenden Satz: „In einem System der Unmenschlichkeit ist der Verstoß gegen die Gesetze eine humane Maxime.“

Ich will euch lehren

Neben Umfang, Aufbau und Inhalt schwankt auch die Qualität der Abschnitte stark. Die besten sind trockene Erzählungen aus dem Alltag von Geflüchteten und kluge Reflexionen, die aus Einzelfällen Allgemeingültiges ableiten. Prominente von Martin Luther über Peter Handke bis Groucho Marx treten als Figuren oder Stichwortgeber auf. Daneben hat sich auch der eine oder andere Schenkelklopfer in das Buch verirrt. Die schwächsten Abschnitte erinnern an Sinnsprüche, die sich nicht recht ins Große und Ganze einfügen wollen.

Man merkt dem Buch an, dass Trojanow das Thema sehr wichtig ist und er versucht hat, einen Grundsatztext zu schreiben, um seinen nicht geflüchteten Mitmenschen die Gefühls- und Lebenswelt des Geflüchteten zu erklären. Dieser aufklärerische Impetus wird ihm Stellenweise zum Verhängnis, wenn ihm der Zeigefinger auf Zaunpfahlgröße anschwillt. Trotzdem: Insgesamt lohnt sich die Lektüre für jeden, der gewillt ist, seine Mitmenschen ein bisschen besser zu verstehen.

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