„Sind wir nicht alle ein wenig Pomsel?“, fragt die Diagonale flapsig anlässlich der Österreich-Premiere von „Ein deutsches Leben“. Die Doku konfrontiert die Zuseher mit den Erinnerungen einer NS-Mitläuferin, der unlängst im Alter von 106 Jahren verstorbenen Sekretärin von Propagandaminister Goebbels, Brunhilde Pomsel. Ihre Aussagen sind so lehrreich wie erschreckend – weil der Weg der „Unpolitischen“ hin zum Verbrecher Goebbels so banal war.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Pomsel, Jahrgang 1911, legt jedes Wort auf die Goldwaage, wenn sie erzählt, wie alles gekommen ist damals: Die Mitgliedschaft in der Partei kostete zehn Mark, ein kleines Vermögen, aber zufällig hatte sie diesen Betrag gerade in der Tasche, als sie sich in einem Berliner NSDAP-Büro einschreiben ließ. Jemand hatte ihr gesagt, nur so könne sie auf eine Stelle beim Rundfunk hoffen. Die bekam sie auch, mehr noch: Von 1942 bis 1945 arbeitete sie als Sekretärin im Vorzimmer von Propagandaminister Joseph Goebbels.
Kompromisslos konzentrierte Doku
Ein attraktiver Mann, unheimlich eitel, erzählt sie in der kompromisslos konzentrierten Doku „Ein deutsches Leben“, die Christian Krönes, Olaf S. Müller, Roland Schrotthofer und Florian Weigensamer gemeinsam über die Mitläuferin Pomsel gedreht haben. Die hochbetagte Frau haben die vier zwei Wochen lang in ein neutrales Studioambiente gesetzt; die hochauflösenden Schwarz-Weiß-Bilder zeigen jede Pore, jede Falte, jede Regung der alten Frau unerbittlich. „Ein deutsches Leben“ porträtiert eine kleine, unbedarfte Karrieristin, die gar nicht wissen wollte, für wen sie arbeitete, und die erst am Ende ihres Lebens Zeugnis ablegt. Das ist umso lehrreicher ausgefallen.
ORF.at: Wie viel Pomsel steckt in jedem von uns?
Florian Weigensamer: Das ist eine Frage, die man selbst nicht beantworten kann. Außer man belügt sich selbst, man kann sich ja nur wünschen, auf welcher Seite man gestanden hätte, aber in Wahrheit kann man das nicht beantworten. Ich hab mir gedacht, dass ich nach dem Film die Frage vielleicht einfacher beantworten könnte als davor - es hat sich aber herausgestellt, dass es noch schwieriger geworden ist.
Weil man der Geschichte der Frau Pomsel sehr gut folgen kann bis zu einem gewissen Punkt, an dem man dann erschrickt und erkennt, huch, da wär ich ja auch vielleicht bei Goebbels im Vorzimmer gelandet. Sonst sind ihre kleinen Entscheidungen ja nachvollziehbar: beim Rundfunk zu arbeiten, mehr Geld zu verdienen, schöne Kleider kaufen zu können, tanzen gehen. Und im Propagandaministerium noch mehr Geld zu verdienen.
ORF.at: Es wirkt im Film, als sei es ihr wahnsinnig wichtig, ihre endlich gewonnenen Einsichten auch zu äußern.
Wegensamer: Sie ist unglaublich präzise in ihrer Wortwahl, und sie hat uns nie Dinge erzählt, die sie aus zweiter Hand gehört hat. „Ich kann euch nur über die Dinge erzählen, bei denen ich dabei war“, hat sie gesagt. Da war am Anfang auch die Frage, ob es möglich ist, mit einer 103-Jährigen so ein intensives, langes Interview von 14 Tagen zu führen. Aber die Sorge hat sich nach dem ersten Gespräch zerstreut, weil sie intelligent ist und hell und Charme hat, was wichtig ist für die Figur. Weil, ein bisschen muss man sie mögen, um sie nachher verstoßen zu können. Und sie ist eine tolle Erzählerin.
Alexander Musik
Die Doku-Regisseure im Gespräch mit ORF.at
ORF.at: Sie sind vier Filmemacher, die jeweils eine eigene Vorstellung davon haben, wie der Film aussehen sollte. Da kommt man sich naturgemäß in die Haare ...
Roland Schrotthofer: Die Standardpresseantwort ist: Wir haben über die wahrscheinlich undemokratischste Zeit der Menschheitsgeschichte versucht, in einem demokratischen Prozess diesen Film zu machen. Natürlich, es ist sicher nicht der leichteste Weg, einen Film zu machen, aber ich glaube, es war wichtig, sich immer zu überprüfen, in welche Richtung man geht und sich dafür am Abend zusammenzusetzen.
Christian Krönes: Der Film sieht wahnsinnig einfach aus. Auf der anderen Seite: Er ist nicht so einfach gestrickt. Es war unser Bestreben, neben all den bestehenden Dokumentationen, Fernsehproduktionen einen besonderen cineastischen Ansatz zu finden. Wir wussten, dass wir in Richtung Schwarz-Weiß tendieren würden. Der Ansatz, wie wir ihn im Film sehen, ist kollektiv entstanden. Wir wollten auf einen recht engen Zeitraum fokussieren, die entscheidende Zeit im Propagandaministerium.
Frau Pomsel hat uns aber auf einen völlig anderen Weg geführt, den wir dann als richtig erkannt haben. Nämlich, sie hat mit ihren frühesten Kindheitserinnerungen, der Erziehung in einer preußischen Familie begonnen, wo wir einfach festgestellt haben: Diese Dinge gehören zusammen! Die familiären Strukturen haben den Faschismus später erst ermöglicht beziehungsweise begünstigt.
ORF.at: Sagt sie immer die Wahrheit?
Krönes: Es gibt diese Passagen, wo man merkt, dass sie nicht ganz die Wahrheit sagt, dass sie möglicherweise ausweicht, das ist ihrem Gesicht abzulesen. Erst die Bereitschaft des Zusehers, zwischen den Zeilen zu lesen und ganz genau hinzusehen, ergibt das ganze Bild.
ORF.at: Wollten Sie von Anfang an Archivbilder zwischen das Interview mit Brunhilde Pomsel schneiden? Da gibt es NS- und US-amerikanische Propagandafilme, dazu schier unerträgliche Bilder von Leichenbergen und befreiten KZ-Häftlingen. War es nötig, das noch einmal zu zeigen?
(Gemeinsames Nicken) Krönes: Das Archivmaterial sollte kontrapunktisch eingesetzt werden, um dem Zuseher einerseits das Gesamtbild zu vermitteln, abseits ihrer Erzählung. Und auf der anderen Seite: Sie arbeitet im Propagandaministerium. Das Archivmaterial - das sind Aufklärungs-, Schulungs-, Propagandafilme der unterschiedlichsten Nationen -, auch dafür soll der Zuseher sensibilisiert werden, für Materialien, die allesamt brillant gestaltet, perfekt inszeniert und in ihren Inhalten immer sehr eindimensional und daher fragwürdig sind.
Weigensamer: Interessant finde ich auch die Unterschiede zwischen den deutschen Propagandafilmen und den amerikanischen in ihrer Strickart. Die amerikanischen haben immer einen Protagonisten oder sprechen den Zuseher persönlich an als Individuum. Die deutschen Propagandafilme locken immer nur damit, Teil der Masse werden.
Der Teufel im weißen Anzug
Schrotthofer: Und es war auch eine Frage, wie gehen wir mit Joseph Goebbels um. Wir haben uns entschieden, es ist eigentlich stärker, den Teufel nicht zu zeigen, wir zeigen ihn nur einmal in Venedig, wo er in weißem Anzug als Herr von Welt von der charmanten Seite auftritt, ansonsten lassen wir ihn nur auf der Tonebene kommen, weil es viel erschreckender ist, wenn man diese Rede ohne Bild sieht.
Filmhinweis
„Ein deutsches Leben“ läuft auf der Diagonale am 1.4. um 13.30 Uhr im UCI Annenhof. Ergänzend findet am 1.4. um 11.00 Uhr im Forum Stadtpark eine Gesprächsmatinee statt.
In Wien findet am 2.4. um 11.00 Uhr die Vorpremiere mit Podiumsdiskussion von „Ein deutsches Leben“ im Filmcasino statt.
ORF.at: Für mich lenken die Archivbilder eher von Brunhilde Pomsel ab.
Weigensamer: Ich weiß, da gibt’s diese ... soll man das herzeigen, soll man das nicht herzeigen? Aber da wird’s gefährlich, weil man da vorzensiert. Man muss schon sagen, was war. Die Wahrheit muss man zumuten, und das ist nicht angenehm. Wenn man beginnt, solche Bilder auszulassen, wo macht man weiter? Man beginnt, weniger darüber zu erzählen und dann kommt eine Aufarbeitung „ein bisschen Holocaust“.
Ich war jetzt in Zürich beim Jüdischen Filmfestival, da war der Herr Szegedi, der ehemalige Jobbik-Parteiführer und Hetzer, der draufgekommen ist, dass er selbst Jude ist und eine 180-Grad-Wandlung durchgemacht hat. Der mir nachher gesagt hat: Wenn er diese Bilder gekannt hätte oder wenn die Leute die Bilder gekannt hätten, dann würde das anders aussehen, weil, wer diese Bilder gesehen hat, kann den Holocaust nicht mehr leugnen.
ORF.at: Es gibt auch Leugner unter denen, die die Bilder gesehen haben.
Krönes: Ja, aber die haben möglicherweise genauso weggesehen wie Frau Pomsel.
ORF.at: Sie war dann fünf Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft.
Weigensamer: Ohne Urteil, ohne Verhandlung. Wohingegen ihr letzter Chef, zu dem Zeitpunkt Gauleiter von Berlin, der Herr Fritzsche, den sie auch erwähnt, bei den Nürnberger Prozessen freigesprochen wurde.
ORF.at: Sie sagt ja auch, es gibt keine Gerechtigkeit. Aber sie meint ihre eigene Strafe, nicht ihre eigene Schuld.
Krönes: Ja, sie als kleine Sekretärin musste fünf Jahre in einem russischen Speziallager sitzen.
ORF.at: Was dort passiert ist, haben Sie nicht erfragt?
Weigensamer: Darüber hat sie nicht sprechen wollen.