Im Jahr 1828 gründet Anton Philipp Reclam einen Verlag. Thomas Mann sollte hundert Jahre später über ihn sagen: „Was er wollte, war die Massenauflage, ermöglicht durch den Spottpreis.“ Doch bis Reclam seine Universal-Bibliothek erfand und die ihre sagenhafte Gesamtauflage von heute über einer halben Milliarde Exemplare erreichte, sollte noch einiges passieren.
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In seinen ersten Jahren druckte Reclam neben Klassikern und aktueller Unterhaltung auch politische Broschüren und Zeitschriften. In den 1840er Jahren hatte er mit der Zensur zu kämpfen. Einer seiner Wochenzeitungen wurde die Konzession entzogen, und er bekam Vertriebsverbot für Österreich. 1846 wurde er „wegen öffentlicher Herabsetzung der Religion“ (er hatte gewagt, Thomas Paines „The Age of Reason“ zu veröffentlichen) zu vier Monaten Haft verurteilt. Die 1848 ausbrechende Revolution ersparte ihm aber das Antreten der Strafe.
Reclam Verlagsarchiv
Regal mit allen Bänden der Universal-Bibliothek, die zwischen 1970 und 2009 erschienen sind
Billig, billiger, Reclam
Nach 1848 verlagerte sich Reclams Schwerpunkt auf Werke wie Liedersammlungen und Bibelausgaben, die - durch die neue Stereotypietechnik besonders günstig - immer wieder unverändert nachgedruckt werden konnten. 1858 brachte er eine unschlagbar billige Shakespeare-Ausgabe auf den Markt und in der Folge auch Auskoppelungen einzelner Dramen in kleinen Heftchen. Am 9. November 1867 schließlich endeten die sogenannten Klassiker-Privilegien, die bis dahin Texte von Autoren wie Goethe und Schiller vor Nachdruck schützten.
Am Tag darauf erschien mit Goethes „Faust. Der Tragödie erster Teil“ die erste Nummer von Reclams Universal-Bibliothek (kurz UB). Es folgten der zweite Teil des „Faust“ und Lessings „Nathan der Weise“ als die Nummern zwei und drei. Der Preis war mit zwei Silbergroschen niedrig und blieb die nächsten 50 Jahre - genauso wie die Covergestaltung - gleich. Eine Besonderheit der UB war, dass die Nummern einzeln verkauft wurden und nicht abonniert werden mussten.
Honorare, Kalkulation und Marketing
Neben den gemeinfreien Texten, die bis heute den größten Teil der UB stellen, wurden auch immer wieder Texte lebender Autoren aufgenommen. Besonders bei diesen Titeln sei auf „die unbedingt nötigen nüchternen Kalkulationen“ zu achten, sagte Hans Heinrich Reclam, Sohn und Nachfolger des Verlagsgründers. An den Autor Wilhelm Raabe schrieb er: „Im Allgemeinen gestattet mir der billige Preis meiner Hefte nur geringere Honorare zu leisten.“
Reclam Verlagsarchiv
Durch innovative Vermarktungsideen sollte die Universal-Bibliothek immer und überall verfügbar sein
Der Verlag versuchte die Reihe ihrem Namen entsprechend universell verfügbar zu machen. Ab 1911 wurden dem Buchhandel zusammenklappbare Schränke angeboten, in denen sich platzsparend die gesamte UB auf Lager halten ließ, und ab 1912 gab es gar Automaten, an denen man Reclam-Hefte kaufen konnte. Im Ersten Weltkrieg wurden Holzkisten mit je 100 Nummern der UB als „Tragbare Feldbücherei“ vertrieben, und für „in den Tropen lebende Deutsche“ bot der Verlag „Reclams Export-Bücherei“ in einer Blechkassette an, die „sicheren Schutz vor Regen, Staub, Insekten“ versprach.
Propaganda, Krieg und zweimal Reclam
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 ging auch an Reclam nicht spurlos vorüber und schmälerte „die Universalität der Universal-Bibliothek durch die Streichung jüdischer und anderer verfemter Autoren empfindlich“, wie es „Der Spiegel“ 1967 formulierte. Das Erscheinungsbild der UB war zu diesem Zeitpunkt schon so bekannt, dass es von Widerstandsgruppen und den Alliierten im „Dritten Reich“ zur Tarnung von antifaschistischer Literatur und Propagandaschriften benutzt wurde.
Am 1. April 1947 begann mit der Gründung der Reclam Verlags GmbH in Stuttgart die deutsch-deutsche Geschichte des Verlags. Nachdem 1950 das letzte Mitglied der Eigentümerfamilie des Leipziger Stammhauses in den Westen ging, stellte die DDR den Verlag unter Treuhandverwaltung. Reclam Stuttgart ließ daraufhin Einfuhr und Vertrieb der Leipziger Produktion in die BRD verbieten, und die nächsten 40 Jahre herrschte Funkstille. In dieser Zeit gab es auch zwei Versionen der UB. Nach dem Mauerfall übernahm der Stuttgarter Verlag den Leipziger Bruder, und die Ost-UB wurde eingestellt.
Es wird farbig
1970, drei Jahre nach ihrem 100. Geburtstag, erlebte die Universal-Bibliothek, was das Design angeht, den bisher größten Einschnitt: Sie wurde gelb. Bis dahin waren die kleinen Hefte in über die Jahre wechselnden Beige-Tönen gehalten. Noch im Jahr zuvor wurde die Covergestaltung modernisiert und war fortan rechtsbündig. Doch erst mit den gelben Umschlägen bekam die UB den bis heute jederzeit erkennbaren Look.
Neben den klassischen gelben Heften, die bis heute den Großteil der UB bestreiten, gab es bald grüne („Erläuterungen und Dokumente“) und orangefarbene (zweisprachige Ausgaben), ab 1973 auch blaue („Arbeitstexte für den Unterricht“) und ab 1983 rote („Fremdsprachentexte“). 2009 kam die sechste und bisher letzte Farbe hinzu: Magenta sind die Umschläge von „Reclam Sachbuch“.
Goethe nur auf Platz zwei
Welcher ist nun aber der bestverkaufte Titel der Universal-Bibliothek? Natürlich sind alle Titel, die hier oben mitmischen, Schullektüre und verdanken ihren Platz auch den Bestellungen in Klassenstärke. Auf den vom Verlag 2012 veröffentlichten Top Ten seit 1948 finden sich Storms „Der Schimmelreiter“, Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“, Kellers „Kleider machen Leute“ und Lessings „Nathan der Weise“. Als einzige Frau ist Annette von Droste-Hülshoff mit „Die Judenbuche“ vertreten. Goethe kann sich mit dem ersten Teil des „Faust“ und „Götz von Berlichingen“ zwei Plätze sichern.
Übertrumpft wird der auf Rang zwei platzierte „Faust“ vom Tyrannenmörder und Patron aller Heimwerker („Die Axt im Haus ...“) „Wilhelm Tell“. Sein Schöpfer Friedrich Schiller schafft es als Einziger mit gleich drei Titeln in die Top Ten: Neben dem erwähnten sind noch „Kabale und Liebe“ und „Maria Stuart“ platziert. Schillers Version des Schweizer Nationalmythos hat sich seit 1948 über 5,4 Millionen Mal verkauft und war auch schon der erfolgreichste UB-Titel bis 1917. Damit sichert er sich - wohl auch noch auf längere Zeit - Platz eins.