JFK, Salzcracker und der Zufall
Mit „4 3 2 1“ veröffentlicht Auster einen mit Spannung erwarteten Romankoloss, der ein Leben in vier Varianten spinnt. Ein imposantes Epos mit Sogwirkung - für Leser mit Durchhaltevermögen.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Mit 14 hatte Paul Auster, wie er kürzlich im Interview mit dem „Guardian“ erzählte, „den wichtigsten Tag meines Lebens“: Er war auf einem Sommerferienlager mit einer Gruppe im Wald unterwegs, als ein Unwetter hereinbrach. Um sich in Sicherheit zu bringen, sollte ein Kind nach dem anderen unter einem Stacheldrahtzaun durchrobben. Als der Bub vor ihm an der Reihe war, schlug plötzlich ein Blitz in den Zaun ein – und dieser Bub, der nur wenige Zentimeter vom Kopf des jungen Paul Auster entfernt gewesen war, war auf der Stelle tot.
Zufall und Schicksalsschläge beschäftigen den amerikanischen Autor, der Anfang Februar seinen 70. Geburtstag feiert, seit diesen Kindertagen – und die Frage nach der Macht des Zufalls begleitet, wie jeder Auster-Leser weiß, auch motivisch sein Werk: Am intensivsten, am stärksten verdichtet nun in „4 3 2 1“, seinem neuen Roman, dem bisher fünfzehnten.
„Größtes Buch meines Lebens“
Ganze 1.264 Seiten hat die deutsche Fassung von „4 3 2 1“, gleich vier Übersetzer waren am Werk. Der Rowohlt Verlag bewirbt den Roman als Austers Opus Magnum, Paul Auster selbst spricht vom „größten Buch meines Lebens“ – und davon, dass er immer darauf gewartet habe, es zu schreiben.
Rowohlt
Paul Auster: „4 3 2 1“. Rowohlt, 1.264 Seiten, 30,80 Euro.
Der Zufall steht jedenfalls schon am Beginn dieser gewaltigen Familiensaga, die mit einer fast klassisch anmutenden Genealogie – und, auf den ersten Seiten, einer Einwanderungsgeschichte – startet: Isaac Reznikoff aus Minsk fährt am ersten Tag des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Schiff auf Ellis Island ein. Ein älterer, erfahrener Landmann rät ihm noch an Bord, sich mit der Einwanderung einen neuen, für amerikanische Zungen geläufigeren Namen zuzulegen: „Sag ihnen, du heißt Rockefeller. Damit kannst du nichts falsch machen.“
Als ihn der Einwanderungsbeamte danach fragt, ist dem armen Reznikoff der Name allerdings schon längst entfallen, und er platzt auf Jiddisch heraus: „Ich hab fargessen!“ Weswegen dann folgender Name notiert wird: Ichabod Ferguson. Namensgebung als Zufallsgeschichte, die wie ein jüdischer Witz klingt.
Die Musik des Zufalls
Ichabod Ferguson ist der Großvater von Archie Ferguson, der Hauptfigur von „4 3 2 1“. Mit ihm manövrieren wir durch eine Kindheit und Adoleszenz in den 1950er und 1960er Jahren, von der ersten Zeit im vorstädtischen New Jersey bis nach New York oder Paris. Archies Vater Stanley betreibt zunächst mit seinen nichtsnutzigen Brüdern das Haushaltsgeräte- und Elektrogeschäft Three Brothers Home, die Mutter ist Fotografin. Als Fünfjähriger fällt Archie vom Baum, bricht sich das Bein und fragt sich zum ersten Mal nach der Bedeutung des Schicksals im Leben:
„Was für ein interessanter Gedanke, dachte Ferguson: sich vorzustellen, wie für ihn alles anders sein könnte, auch wenn er selbst immer derselbe bliebe. Derselbe Junge in einem anderen Haus mit einem anderen Baum. Derselbe Junge mit anderen Eltern. Derselbe Junge mit denselben Eltern, die aber nicht dieselben Dinge täten wie jetzt.“
Diese Überlegung ist es, die Auster ausbuchstabiert zur Leitidee seiner Geschichte werden lässt. Hinter der Struktur des Buchs, die mit durchnummerierten Kapiteln 1.1., 1.2., 1.3., 1.4. usw. an wissenschaftliche Publikationen erinnert, verbirgt sich nämlich das vierfach variierte Kaleidoskop einer Lebensgeschichte, die von Auster jeweils parallel entwickelt wird.
Zweimal hetero-, einmal bisexuell
Alle vier Archie Fergusons kommen in derselben Familie zur Welt, alle sind im weiteren Sinn Autoren, und immer spielt das Mädchen Amy Schneiderman eine zentrale Rolle. In nur einer Variante aber wird Amy zur großen Liebe, nur einmal überlebt die Ehe der Eltern, nur einmal brennt ihr Geschäft nieder und nur einmal wird es ausgeraubt. Zweimal ist Archie Ferguson hetero-, einmal bisexuell, der vierte Archie - darüber soll hier nichts verraten werden.
Dem biografischen Materialfundus entspringen – auch das kennt man von Auster – zahlreiche Wendungen. Das „Was wäre, wenn?“ hat er scheinbar auch sonst am eigenen Leben durchgespielt: Wie ihr Erfinder sind die Archie Fergusons fasziniert von Baseball, Basketball und französischer Kultur und sie haben sogar fast das idente Geburtsdatum (Archie ist nur einen Monat älter als Auster selbst).
„4 3 2 1“: Der Rückblick eines älter werden Autors auf die biografischen Möglichkeiten seiner Jugend? Austers neuer Roman dreht sich jedenfalls darum, wie viel im Leben vordefiniert ist und wie viel den Umständen geschuldet ist.
Kennedy, Universitätsbesetzung, Malcom X
Als Leser gerät man rasch in den Sog dieser vierfachen Adoleszenz-, Familien- und sogar auch Abenteuergeschichte, die nicht nur den vier Archies folgt, sondern zugleich, wie so oft bei Auster, mit der amerikanischen Zeitgeschichte verwoben ist: diesmal intensiv und auf das Konkreteste.
Wir schreiben die 1960er Jahre, man durchlebt mit Archie die turbulente Zeit der Bürgerrechtsbewegung und des desaströsen Einsatzes in Vietnam, die Zeit von Kennedy, Martin Luther King, Malcom X und der studentischen Besetzung der Columbia University im Frühjahr 1968.
„Ein paar Salzcracker, gerne mit Traubengelee“
Auster schildert das Zeitgeschehen aber bisweilen mit einer Detailgenauigkeit und einem Hang zum Dokumentarischen, die einem einiges an Durchhaltevermögen abverlangen. Dazu werden seitenweise Einzelheiten über Baseballmatches in den 1960er Jahren oder die Leseliste im ersten Semester an der Columbia University ausgebreitet („Französische Lyrik. Wintersemester – Neunzehntes Jahrhundert: Lamartine, Vigny, Hugo, Nerval, Musset, Gautier, Baudelaire, Mallarme, Verlaine, Corbiere, Lautreamont, Rimbaud, Laforgue“ usw.).
Damit nicht genug: Als Leser erfährt man alles über Ferguson, seine Leidenschaft für Filme und Poesie bis hin zur Nachmittagsjause bei der Großmutter („meistens zwei Schokokekse und ein Glas Milch, manchmal aber auch eine Pflaume, eine Orange oder ein paar Salzcracker, die Ferguson gern mit Traubengelee aß“). Da fällt einem zwischendurch schon einmal der US-amerikanische Historiker Robert Darnton ein mit seinem Satz: „In jedem dicken Buch steckt ein dünnes, das schreit: Ich will hier raus!“
Paula Pfoser, für ORF.at
Links: