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Von der Urfrucht zum Kassenschlager

USB-Stick, Epiliergerät, Mikrobewässerung - israelische Forscher haben viele wichtige Erfindungen hervorgebracht. Auch die Kirschtomate soll vor rund 30 Jahren dem Labor israelischer Wissenschaftler entsprungen sein. Erstaunlich, denn die Geschichte des Paradeisers reicht über 2.200 Jahre zurück.

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Nicht in Israel, sondern in Südamerika - vor allem Peru, Ecuador und Nordchile - hat die Tomate ihren Ursprung. Sie war etwa erbsengroß, also deutlich kleiner als alle heutigen Tomaten, und wuchs in Trauben. Etwa im achten Jahrhundert kultivierten die Azteken in Mexiko die Urtomaten und züchteten „Tomatl” unterschiedlichster Formen und Größe, berichtet die British Tomato Growers Association auf ihrer Website.

Kirschtomaten

Getty Images/Claudia Totir

Tomatl: Der Reichtum an Sorten geht auf die Azteken zurück

Tomatentrauben in Kirschenform

„Als die spanischen Eroberer Mittelamerika Anfang des 16. Jahrhunderts erreichten, haben die Mexikaner schon alle möglichen Sorten von Tomaten - in allen Größen, Formen und Farben - gegessen”, sagte Arthur Allen, ein Gesundheitsredakteur von Politico, in „Gastropod“, einer amerikanischen Podcastserie über Lebensmittel. Auch kleinere Paradeiser, zumindest Früchte, die den heutigen Kirschtomaten sehr ähneln, sollen sich unter diesen vielen Sorten befunden haben. Sie wurden nämlich, wie die Aufzeichnungen des Schweizer Botanikers Gaspard Bauhin zeigen, nur kurze Zeit später von den spanischen Eroberern aus der neuen Welt nach Europa gebracht.

In seiner Darstellung „Pinax Theatri Botanici“ aus dem Jahr 1623 beschrieb Bauhin eine besondere Tomatensorte als „Tomatentrauben in Form von Kirschen”, wie die Wissenschaftsjournalistin Anne Wexler im Fachmagazin „Gastronomica“ feststellt. Die Vermutung, dass Kirschtomaten bereits im 17. Jahrhundert in Europa existierten, läge also nahe, so Wexler.

Kirschtomaten aus Griechenland?

Nach Bauhins detaillierter Studie verliert sich die Spur der Kirschtomate. Nur hier und da wurde sie in beiläufig erwähnt, bis im 18. Jahrhundert die griechische Insel Santorin mit kleinen Paradeisern Aufsehen erregte. Die „Tomatiki Santorini“ sind den Kirschtomaten außergewöhnlich ähnlich und wurden sogar mit der geschützten Herkunftsbezeichnung der Europäischen Union versehen. Dieses Herkunftssiegel ließe vermuten, dass die Wurzeln der europäischen Form der Kirschtomate auf Santorin sind.

Wie Wissenschaftler herausgefunden haben, handelt es sich bei den Tomatiki Santorini aber nicht um Kirschtomaten, heißt es in „Gastropod“. Ganz im Gegenteil, sie seien gewöhnliche große Früchte, die wegen des trockenen Klimas und des nährstoffarmen Bodens einfach so klein bleiben. In einer fruchtbaren Gegend würden die santorinischen Paradeiser apfelgroß werden. Auf Santorin gab es laut den Angaben nur kirschgroße Tomaten, aber keine Kirschtomaten.

Seltene Gartenfrucht

Auch in den kommenden Jahrzehnten änderte sich nichts am geringen Bekanntheitsgrad der Kirschtomaten. Die „Herald Tribune“ erwähnte sie 1936 in einem Nebensatz und schrieb von „Früchten, die man nur gelegentlich in Gärten italienischstämmiger Familien sieht”. Der eigene Anbau im Garten war die einzige Möglichkeit, Kirschparadeiser zu bekommen. Ihre Kommerzialisierung schien völlig undenkbar, berichtete Wexler.

„Tomaten wie aus Großvaters Garten“

Es war schließlich das Verdienst der britischen Kaufhauskette Marks&Spencer, dass die Kirschtomaten in den Supermarktregalen gelandet sind. Marcus Sieff, damaliger Vorstandsvorsitzender von Marks&Spencer, forderte in den 70er Jahren „Tomaten, die so gut schmecken wie aus Großvaters Garten“, wie ihn Bernard Sparkes, pensionierter Vorsitzender der British Tomato Growers’ Association im Podcast zitierte. Mit wirklich schmackhaften Tomaten – mit der Versorgungslage war man offenbar nicht besonders zufrieden – wollte Marks&Spencer das Gemüsesortiment revolutionieren.

Kirsch- oder Cocktailtomate?

Die süßen Kirschtomaten sind die kleinsten Paradeiser und wiegen rund 20 Gramm. Sie können rund, länglich oder oval sein. Hinter der oft synonym verwendeten Bezeichnung Cocktailtomate versteckt sich eine eigene Sorte. Sie unterscheidet sich geschmacklich kaum von der Kirschtomate, weist aber ein höheres Gewicht auf.

So trat der Lebensmittelchef des Unternehmens mit englischen Gemüsegärtnern in Verbindung, um die Zucht von geschmacksintensiven Kirschtomaten zu beauftragen. Sparkes war schon zu dieser Zeit im Tomatengeschäft tätig und entwickelte nach einigen Versuchen Früchte mit vollem Geschmack. Anfang der 80er Jahre führten sie in den Geschäften von Marks&Spencer zu einem Kirschtomatenboom.

„Gemüsewiege“ Israel

Marks&Spencer gab sich aber nicht mit englischen Paradeisern zufrieden. Eine der Familien, die das Unternehmen gegründet hat, war jüdisch und hatte intensive Verbindungen zu Israel. Dort wurde intensiv an Gemüse geforscht, das sich an das dortige Klima anpassen kann. Zu jener Zeit hatte Israel schon eine Reputation bei der Kultivierung von Gemüse und Früchten erarbeitet, insbesondere bei Tomaten.

Kirschtomaten

Getty Images/IgorGolovnov

Die grätenähnliche Anordnung stammt aus dem israelischen Labor

So kontaktierte Marks&Spencer parallel zu den englischen Gemüsegärtnern die agrarwissenschaftliche Fakultät der Hebräischen Universität in Jerusalem mit dem Vorschlag, schmackhafte und kommerziell nutzbare Kirschparadeiser zu züchten. Zwei Wissenschaftler der Universität, Chaim Rabinowitsch und Nachum Kedar, forschten damals an Paradeisern und entwickelten daraufhin handelsfähige Kirschtomaten für Marks&Spencer.

Der neue Handelsparadeiser

Sie waren nicht nur geschmacksintensiv, sondern auch sehr lange haltbar und durch ihre grätenähnliche Anordnung an der Rispe gut zu verpacken und leicht zu transportieren. Die Kombination dieser Eigenschaften machte die israelische Kirschtomate zur perfekten Tomate für kommerzielle Zwecke. Ende der 80er Jahre zog die Sorte in die Regale ein und von dort aus in die ganze Welt - als mundgerecht verpackte Happen mit intensivem Geschmack.

Noch heute sind die Einkünfte der Hebräischen Universität durch die Kirschtomatensamen höher als der Ertrag aller anderen verkauften Erfindungen zusammen. Auch wenn die Kirschtomate in ihrer ursprünglichen Form von den Mexikanern gezüchtet wurde, die Entwicklung der handelsfähigen Kirschtomate beansprucht Israel zu Recht.

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