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Zeigen, wer die Mehrheit ist

Die verschiedenen Teile der US-Gesellschaft sind immer wieder heftig aufeinandergeprallt – das ist angesichts des politischen Systems unausweichlich. Doch seit Jahrzehnten scheinen die Gräben nicht mehr so tief gewesen zu sein wie am 8. November. Die weiße Mehrheit – auch wenn sie langsam schrumpft, sind das noch immer 70 Prozent der US-Bevölkerung – wurde monatelang von Experten und vielen Medien als baldige Minderheit beschrieben.

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Als wahlentscheidend sahen es die meisten daher, wem es besser gelänge, Schwarze und Hispanics zu mobilisieren. Trumps „Pfad zu einem Sieg“ – nämlich praktisch ausschließlich auf Themen zu setzen, die die weiße Arbeiterschaft und die untere Mittelklasse bewegen – wurde bis zuletzt von der großen Mehrheit der Kommentatoren belächelt.

Die Expertin der konservativen New Yorker Denkfabrik Manhattan Institute Kay Hymowitz sucht Tage nach der Wahl ebenfalls noch nach einer Erklärung für den Wahlausgang. Einen Hauptfaktor sieht sie im Interview mit ORF.at aber in einem „Klassensnobismus“ der Eliten, die ihrer Ansicht nach so abgehoben sind, dass sie nicht nur einen möglichen Trump-Sieg nicht sehen wollten, sondern schlicht den Kern von Trumps Wählerschaft nicht verstehen könnten. Sie seien vielleicht fähig, diese mit wissenschaftlichen Begriffen zu beschreiben - aber sie hätten keinerlei Gefühl für deren Lebenssituation.

Kay S. Hymowitz

Twitter/Kay Hymowitz

Hymowitz ist gegen Trump, findet es aber wichtig, seine Wähler besser zu verstehen. Das Gros habe mit Rechtsextremen und Rassisten wie dem Ku-Klux-Klan nichts am Hut, glaubt sie.

Verkehrte Identitätspolitik

Das, so ist Hymowitz überzeugt, hat ursächlich mit einem der Grundprobleme der US-amerikanischen Gesellschaft zu tun: Das Land und der öffentliche Diskurs werde seit Jahrzehnten von „Identitätspolitik“ dominiert – das sieht sie als eine Folge der Bürgerrechtsbewegung und des Versuchs, die Segregation zwischen Weißen und Schwarzen zu überwinden.

Jede und Jeder sehe sich als jüdischer, schwarzer, hispanischer oder sonstiger Amerikaner – dabei stehe aber die ethnische Komponente so sehr im Vordergrund, „dass die Leute dadurch ghettoisiert werden“, bedauert die Politexpertin. Dabei geraten die Diskussion und die Verständigung darüber, was die Menschen hier über die Tatsache hinaus, „dass wir auf demselben Stück Erde leben“, „geradezu in Vergessenheit“ – also darüber, was die Amerikaner zu Amerikanern mache, egal welchen Hintergrund sie haben. „Es entsteht der Eindruck, also ob wir eigentlich kaum etwas gemein haben.“

In dieses Bild passe, dass die Medien vor dieser Wahl von der demografischen Unterteilung der Wählerinnen und Wähler geradezu besessen gewesen seien. Es sei dabei beinahe vergessen worden, dass die Menschen sich nicht nur über Zugehörigkeiten etwa zu einer ethnischen oder religiösen Gruppe definieren.

Separieren statt auseinandersetzen

Besonders stark sei diese Identitätspolitik an Unis zu spüren - ursprünglich aus einem gut gemeinten Motiv heraus. Denn schwarze und hispanische Studenten hätten, als sie in größeren Zahlen an die Unis kamen, bemerkt, dass es nicht so einfach ist, von der weißen Mehrheit aufgenommen zu werden. Daher gibt es seit Jahrzehnten „themed dorms“ – also Studentenheime für spezielle Gruppen – etwa Afroamerikaner, aber auch Schwule und Lesben, selbst für Umweltbewusste gibt es mittlerweile eigene Unterkünfte.

Das führe aber nur zu einer neuerlichen Segregation – noch dazu in einem Alter und Umfeld, in dem man Offenheit für andere Standpunkte und Lebensweisen am besten lernen könnte, so die New Yorkerin.

In diesem Zusammenhang kritisiert Hymowitz auch eine überzogene Form der Political Correctness, die dazu führe, dass viele wichtige Themen tabuisiert seien und man nicht mehr offen darüber reden könne. Dazu gehöre etwa, dass die Kriminalitätsrate – proportional gesehen – unter Schwarzen in den Innenstädten viel höher sei als unter Weißen in „Suburbia“. Dafür gebe es viele und sehr unterschiedliche Ursachen. Doch selbst an der Uni sei es oft unmöglich, darüber offen zu reden, und man laufe Gefahr, als Rassist abgestempelt zu werden.

Protest gegen Geringschätzung

Seit Jahrzehnten hätten die nunmehrigen Trump-Anhänger gehört, dass sie in Zukunft die Minderheit sein werden, dass sie sich „auf dem Rückzug befinden“. Nun hätten sie reagiert und in der Wahlzelle quasi gesagt: „Gut, wenn wir schon Identitätspolitik machen, dann machen wir unsere eigene Identitätspolitik.“ Das, so betont Hymowitz, sei für alle eine „schreckliche Lösung“, aber sie zeigt Verständnis für diese Reaktion. Denn die Trump-Wähler würden „die Geringschätzung“ der Eliten ihnen und ihrem Lebensstil gegenüber spüren.

Sehnsucht nach der guten alten Zeit

Die Bevölkerung sei stärker als je zuvor in zwei große Lager gespalten: Auf der einen Seite die tendenziell weniger gut Gebildeten, die auf dem Land leben, und auf der anderen Seite jene Gruppe, die zumindest das College begonnen hat, in Städten lebt und von der Einstellung her eher kosmopolitisch ist. Letztere seien die Gewinner der digitalen Wirtschaft, Erstere dagegen hätten unter der Finanzkrise und ihren Folgen bis heute zu leiden. Laut der Expertin könne man den Leuten vorwerfen, sie seien „naiv“ zu glauben, Trump werde das Rad der Zeit zurückdrehen.

Doch diese Menschen seien sehr pessimistisch und würden für sich selbst und für ihre Kinder keine Zukunft sehen. Das treibe sie an, ebenso die Wut über die Eliten, die in ihren Augen an ihrer Misere schuld sind - und weiters: das Gefühl, „dass früher alles besser war“. Das „Geniale an Trump, und das meine ich nicht bewundernd, ist, dass er instinktiv diesen Hunger, diese Wut, die es bei diesen Menschen gibt, gesehen hat“. Und er habe das Bedürfnis, einen Sündenbock zu benennen, gespürt - und es „leider“ auch bedient, so Hymowitz, unter Verweis auf seine Vorwürfe gegen Immigranten und Muslime.

„Rough talk“

Auch bei den weißen Frauen schnitt Trump viel besser ab, als es die große Mehrheit der Prognosen erwarten ließ. Das Video, das Trumps sexistische Aussagen über Frauen aufdeckte, schadete ihm bei seinen Kernwählerinnen sichtlich gar nicht. Das erklärt sich Hymowitz damit, dass in der ländlichen unteren Mittelschicht oft ein anderer, viel direkterer, offenerer und rauerer Umgangston („rough talk“) herrsche als im urban geprägten Umfeld. Auch Frauen würden Dinge oft viel direkter und politisch unkorrekt sagen – und dann auch mit sexistischen Sprüchen von Männern anders umgehen, meint Hymowitz.

“Gesehen werden“

Trump „war ein schrecklicker Kandidat und wird ein schrecklicher Präsident“ sein, ist Hymowitz überzeugt, aber er habe als Einziger den Frust, die Wut und die Sorgen der „forgotten men“ – das Pendant zum „kleinen Mann“ - erkannt und im Wahlkampf stets betont, dass mit ihm „die vergessenen Menschen nicht länger vergessen“ sein werden.

Und Hymowitz erwähnt das Buch „Hillbilly elegy“ von J. D. Vance, der in Ohio aufwuchs und der genau diese Welt aktuell so treffend beschreibe wie sonst niemand. Zwei Tage nach Trumps Wahlsieg wurde Vance vom TV-Sender CNN interviewt – und er bestätigte Hymowitz’ Analyse: Trumps Wähler würden gar nicht erwarten, dass er seine ganzen Wahlversprechen einlöse. Das Entscheidende sei gewesen, dass mit Trump endlich jemand sie und ihre Nöte „gesehen“ habe.

Guido Tiefenthaler, ORF.at, aus New York

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