Es geht bereits um 2020
Am Dienstag wird nicht nur ein neuer US-Präsident - oder erstmals eine US-Präsidentin - gewählt, es geht auch um die Machtverhältnisse auf Washingtoner Ebene über die Bundesstaaten bis auf lokale Ebene hinunter. Erst das Gesamtergebnis zeigt, wer zumindest in den nächsten zwei Jahren, wenn die Midterm-Elections anstehen, mehr zu sagen hat - Republikaner oder Demokraten.
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Die Demokraten stellten zwar mit Barack Obama zweimal hintereinander den Präsidenten, doch in den letzten sechs Jahren, als die Demokraten auch im Senat keine Mehrheit mehr hatten, brachte Obama kaum wegweisende Gesetze über die Bühne, genauer: durch den Kongress, weil die Republikaner mit der Mehrheit in beiden Kammern das Gros der Initiativen abschossen oder in Ausschüssen auf Eis legten.
Clintons Angst vor Pyrrhus-Sieg
Gewinnt Hillary Clinton, wäre das zwar auch insofern ein ungewöhnlicher Erfolg, als die Wähler traditionell nach zwei Amtszeiten für einen Wechsel stimmen, also den Kandidaten der anderen Partei ins Weiße Haus schicken. Ihr Sieg alleine würde Clinton aber wenig helfen.
![© Grafik: ORF.at; Quelle: realclearpolitics.com Grafik zur Senatswahl in den USA](../../../static/images/site/news/20161044/us_wahl_senat_karte_o.4719070.png)
Grafik: ORF.at; Quelle: realclearpolitics.com
Für Clinton, die nicht umsonst mit ihrer Kampagne im Finale stark Kongresskandidaten unterstützt, ist es entscheidend, dass ihre Partei zumindest die Mehrheit im Senat (54 Republikaner, 44 Demokraten, zwei Demokraten-nahe Unabhängige) zurückerobert. Das gilt als möglich bis wahrscheinlich, da von den 34 Senatsposten, die am Dienstag zur Wahl stehen, neun als mehr oder weniger offene Rennen gelten. Bei einem Sieg Clintons reicht es, wenn die Demokraten vier dieser Sitze erobern, da sie dann Stimmengleichheit hätten. In dem Fall gibt die Stimme des Vizepräsidenten den Ausschlag.
Abgeordnetenkammer außer Reichweite
Auch auf einen Verlust der viel klareren republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus spekulieren optimistische Demokraten: Während die 100 Senatoren auf sechs Jahre bestellt sind, werden die 435 Abgeordneten alle zwei Jahre neu gewählt. Mit 246:188 (ein Sitz vakant) haben die Republikaner hier aber eine satte Mehrheit. Auch wenn viel mehr republikanische als demokratische Sitze als umkämpft gelten - die Prognosewebsite RealClearPolitics, die einen Durchschnitt der wichtigsten Umfragen errechnet, gibt den Demokraten praktisch keine Chance.
Demokraten bei Gouverneuren unter Druck
Auch zwölf der 50 Gouverneure werden neu gewählt. Bei den Gouverneuren haben die Republikaner mit 31 ebenfalls einen klaren Vorsprung gegenüber den Demokraten (18), bei einem Unabhängigen.
![© Grafik: ORF.at; Quelle: realclearpolitics.com Grafik zu den Gouverneurswahlen in den USA](../../../static/images/site/news/20161044/us_wahl_gouverneur_karte_o.4719069.png)
Grafik: ORF.at; Quelle: realclearpolitics.com
Die Demokraten sind zudem unter stärkerem Druck: Denn acht der nun zur Wahl stehenden Posten werden derzeit von Demokraten gehalten. Als besonders offene Rennen gelten unter anderem Indiana, wo Trumps Vizekandidat Mike Pence nicht mehr antritt, Missouri, wo der Demokrat Jay Nixon nach zwei Perioden nicht mehr antreten darf, und New Hampshire, wo die demokratische Amtsinhaberin Maggie Hassan für den Senat kandidiert.
Der unterschätzte Machtfaktor
Während nur in zwölf Bundesstaaten die oberste Exekutive neu bestimmt wird, werden am Dienstag in 43 Bundesstaaten in den beiden gesetzgebenden Kammern insgesamt 5.923 Sitze neu vergeben - 1.212 Senatssitze und 4.711 Abgeordnetensitze. Das sind 80 Prozent aller Mandate auf Bundesstaatenebene.
Laut einer Studie aus dem Jahr 2013 vom Politologen Steven Rogers kennt nicht einmal jeder Fünfte die Abgeordneten seines Wahlkreises auf Bundesstaatenebene. Das ist wohl der Hauptgrund dafür, dass das Gros der Wähler trotz des ausgeprägten Persönlichkeitswahlrechts nach Parteizugehörigkeit abstimmt. Das führt dazu, dass meist jene Partei, die die Präsidentschaftswahl gewinnt, auch bei den Mandaten auf Bundesstaatenebene von einem Windschatteneffekt profitiert. Die Demokraten erzielten hier Zugewinne, als Obama 2008 zum ersten Mal gewählt wurde.
![© voteseminole.org Stimmzettel in Florida](../../../static/images/site/news/20161044/us_wahl_wahlkampf_reisen_body_n.4719028.jpg)
voteseminole.org
Ein Beispiel für den Wahlzettel, den es etwa in Florida zu „bewältigen“ gilt
Unter Obama mehr als 900 Sitze verloren
In den nachfolgenden Wahlen verloren die Demokraten allerdings 913 Sitze - viel mehr als der Durchschnitt von 450 nach 1945. Dabei haben die Bundesstaaten in den letzten Jahren - nicht zuletzt durch die Blockade im Washingtoner Kongress in vielen Fragen - deutlich an Bedeutung gewonnen. Zu den besonders spannenden Rennen gehören laut der unabhängigen Politikwebsite Ballotpedia jene in den Bundesstaaten New Hampshire, Colorado, Iowa, New Mexico und Washington.
Immer weniger Wettbewerb
Experten beklagen, dass der US-amerikanischen Demokratie der fürs Funktionieren wichtige Wettbewerbsfaktor immer mehr abhandenkommt. Wettbewerb wird dabei anhand der Anzahl offener Rennen, bei denen also das Ergebnis nicht de facto schon vorher feststeht, gemessen. Laut Ballotpedia nahm genau dieser Faktor in den letzten Jahren stetig ab.
Bei den Midterm-Wahlen von 2014 war der Anteil an Wahlberechtigten, die in einem Bundesstaat lebten, wo die Senatswahl mit fünf Prozent oder weniger entschieden wurde, der zweitniedrigste seit 1972. Für die Abgeordnetenkammer war es laut Ballotpedia der drittniedrigste. Und noch nie hatten die Leute bei den Wahlen für die Abgeordnetenkammer ihres Bundesstaates so wenig Auswahl: Denn es trat gleich nur der Kandidat einer einzigen Partei an.
Trifecta: Schlüssel zur Macht
Wenn eine Partei in einem Bundesstaat den Gouverneur und die Mehrheit sowohl im Senat als auch in der Abgeordnetenkammer des gleichen Bundesstaates stellt - also Exekutive und Legislative kontrolliert. Der Begriff ist aus dem Pferdesport entlehnt und bezeichnet eine Wette auf die Reihenfolge der ersten drei Pferde.
30 einfarbige Bundesstaaten
Diesen Trend bestärkt auch die hohe Anzahl an Trifecta-Bundesstaaten - also Staaten, in denen Gouverneur und die Mehrheit beider Parlamentskammern von einer einzigen Partei gestellt werden. Derzeit gibt es solche Trifectas in 30 der 50 Bundesstaaten - 23 davon sind ganz rot (republikanisch), sieben davon ausschließlich blau (demokratisch).
Die anstehenden Gouverneurswahlen allein könnten sieben Trifectas gefährden, drei auf demokratischer, vier auf republikanischer Seite. Auch durch geänderte Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten könnte das passieren.
Republikaner mit mehr Down-Ballot-Weitsicht
Seit Jahrzehnten konzentrieren sich die Republikaner viel stärker und konsequenter auf Machtzuwachs dieser Ebene als die Demokraten. Mit Erfolg - und auch mit Kalkül, denn in den meisten Bundesstaaten liegt die Einteilung der Wahlbezirke, die alle zehn Jahre entsprechend dem aktuellen Zensus neu gemacht werden muss, bei den Parlamenten.
Dieses Redistricting genannte neue Ziehen der Grenzen hat aufgrund des in den USA geltenden Mehrheitswahlrechts und des „Winner takes it all“-Prinzips weitreichende Folgen für die nächste Wahl. Und das nächste Redistricting steht 2020 vor der nächsten Präsidentschaftswahl an. 2010 hatten die Republikaner stark davon profitiert.
Stimmenmaximierung mit Grenzziehung
Eigentlich sollte das Redistricting überparteilich passieren, doch das ist in vielen Bundesstaaten längst nicht mehr der Fall und ist zum „Gerrymendering“ verkommen: der absichtlichen, der Stimmenmaximierung dienenden Verschiebung von Wahlkreisgrenzen.
Hinweis
ORF.at berichtet rund um die Uhr über alle Ergebnisse und Ereignisse bei der US-Wahl. Die Auszählung und den Tag nach der Entscheidung begleitet ein Liveticker mit Experten- und Korrespondentenstimmen. Per Livestream sind ab 22.00 Uhr auch die ORF-Sondersendungen zu sehen – mehr dazu in tv.ORF.at.
Obama kündigte laut National Public Radio (NPR) bereits an, sich auch nach dem 8. November für die demokratischen Kandidaten „down the ballot“ (weiter unten auf dem Wahlzettel) einzusetzen. Er will mit dem National Democratic Redistricting Committee zusammenarbeiten, um die Partei auf der unteren Ebene vor der nächsten Redistricting-Runde in vier Jahren zu stärken. Nach dem Verlust von mehr als 900 Sitzen spürt Obama vielleicht, dass er hier etwas gutzumachen hat.
Genau aus diesem Grund setzte Clinton zuletzt alles darauf, möglichst viele Rennen auf Bundesstaatsebene zu unterstützen. Und deshalb fürchten die Republikaner seit Wochen, dass Trump seiner Partei auch bei den anderen Wahlen Schaden zufügen könnte: Denn alle Wahlen zusammen entscheiden über die künftige Machtbalance und darüber, wie viel Spielraum die künftige Präsidentin oder der Präsident hat - und indirekt geht es um den Obersten Gerichtshof, der in den umstrittensten Fragen, etwa Abtreibung, Minderheitenrechten und Recht auf Tragen einer Waffe, oft die letzte Instanz ist.
Guido Tiefenthaler, ORF.at
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