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Ein moralischer Grenzfall

Darf man eine Gruppe Menschen töten, um viele andere zu retten? Luftwaffenpilot Lars Koch (Florian David Fitz) tat genau das, als er ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug abschoss. Nun muss er sich vor Gericht verantworten - und vor dem Fernsehpublikum: In der starbesetzten TV-Adaption von Ferdinand von Schirachs Bühnenstück „Terror“ entscheiden die Zuseher über Schuld oder Unschuld. Das TV-Event wird gleichzeitig in ORF2, der deutschen ARD und im Schweizer Rundfunk (SRF) ausgestrahlt.

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„Meine Damen und Herren. Sie sind heute dazu aufgerufen, Schöffen vor einem deutschen Gericht zu sein. Als Schöffen sind Sie Laienrichter, und das Gesetz stattet Sie mit der Macht aus, über das Schicksal eines Menschen zu entscheiden. Bitte nehmen Sie diese Verantwortung ernst.“ Mit eindringlichen Worten wendet sich der vorsitzende Richter (Burghart Klaußner) am Berliner Schwurgericht zu Beginn von „Terror - Ihr Urteil“ direkt an die Zuschauer vor den Fernsehern.

TV-Hinweis

ORF2 zeigt „Terror - Ihr Urteil“ am Montag um 20.15 Uhr - mehr dazu in tv.ORF.at. In tvthek.ORF.at stehen der Film und die Diskussion als Livestream und danach als Video-on-Demand zur Verfügung.

Auf der anderen Seite des Saales, von Rechtsvertretern, Journalisten und Gerichtskiebitzen durch eine Plexiglaswand getrennt, steht Luftwaffenmajor Koch. Als islamistische Terroristen eine Lufthansa-Maschine kaperten und während des Fußballländerspiels zwischen Deutschland und England in die voll besetzte Münchner Allianz-Arena steuern wollten, missachtete der Kampfpilot den Befehl seiner Vorgesetzten und schoss das Flugzeug mit einer Luft-Luft-Rakete vom Himmel. 164 Menschen starben - doch die mehr als 70.000 Besucher des Fußballmatchs wurden gerettet.

Wer darf über Leben und Tod entscheiden?

Die dramatischen Szenen in der Luft, Kochs innerliches Ringen im Cockpit, ehe er die Rakete abfeuert - all das sieht das TV-Publikum nicht. Regisseur Lars Kraume rollt die Ereignisse rein in einer fiktiven Gerichtsverhandlung auf. Die Anklage gegen Koch lautet auf 164-fachen Mord. Für Staatsanwältin Nelson (Martina Gedeck) hat sich der Angeklagte zum Herr über Leben und Tod gemacht. Berufen kann sie sich dabei auf eine Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts: Leben dürfe niemals gegen anderes Leben abgewogen werden, heißt es darin.

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„Es war kein Mord“

Anwalt Biegler (Lars Eidinger) gibt eine eindrückliche Erklärung für seinen Mandanten ab - und spannt dabei den Bogen von 9/11 bis zum Tag des Flugzeugabschusses.

Kraume inszeniert die Verhandlung als beklemmendes Kammerspiel. Die Rechtsvertreter werden nur mit Nachnamen genannt. Sie führen durch die Geschehnisse an jenem 26. Mai, als Koch Flug LH2047 abschoss. Neben Gedeck und Fitz brilliert vor allem Lars Eidinger als Kochs Strafverteidiger Biegler, der mit einer riskanten Strategie versucht, die Unschuld seines Mandanten zu beweisen, und auch die direkte Konfrontation mit dem vorsitzenden Richter nicht scheut.

Eine Entscheidung und ihre Einordnung

Nach den Schlussplädoyers ist das Publikum gefragt. In ORF2 wird TV-Justizexperte Peter Resetarits („Am Schauplatz Gericht“) zur Abstimmung aufrufen. Mittels Televotings - unter 09010590901 für „schuldig“ und unter 09010590902 für „nicht schuldig“ - bzw. online - mehr dazu in extra.ORF.at - können die Zuseher über den Ausgang des Justizdramas bestimmen. Nach dem Votum wird jene Version ausgestrahlt, für die sich eine Mehrheit entschieden hat.

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Die letzten Minuten vor dem Abschuss

Koch schildert dem Richter die letzten Minuten vor dem Abschuss der Lufthansa-Maschine. „Ich hab an den Tod gedacht und dass sich jetzt alles in meinem Leben ändert“, sagt der Pilot.

Im Anschluss an das von Oliver Berben produzierte TV-Drama gibt es eine Livediskussion, in der versucht wird, die Geschehnisse einzuordnen. Unter dem Titel „Terror - Die Diskussion“ spricht Moderator Resetarits unter anderem mit Justizminister Wolfgang Brandstetter, der Rechtsphilosophin Elisabeth Holzleithner und dem Verfassungsjuristen Heinz Mayer über den Fall. In der deutschen ARD ist parallel eine „hart aber fair“-Sendung mit Frank Plasberg, im Schweizer SRF eine „Arena spezial“ mit Jonas Projer angesetzt. In Schaltungen zu den Partnersendern werden die Abstimmungsergebnisse in Österreich, Deutschland und der Schweiz verglichen.

Mehr als ein „juristisches Lehrstück“

Der gelernte Rechtsanwalt von Schirach gehört zu den bekanntesten Kriminalautoren Deutschlands. „Terror“ habe er nahe an der konkreten Rechtslage gehalten, sagt er: „Es ist genau die Art und Weise, wie ein Prozess in Deutschland ablaufen würde.“

Schöffen statt Geschworene

In Deutschland gibt es keine Geschworenenurteile. Zum Unterschied von Österreich liegen die Urteile daher dort auch bei schwersten Verbrechen in der Verantwortung von Schöffen.

Zugleich sei das Werk aber natürlich im Hinblick auf Unterhaltung und Diskussionsanregung konzipiert: „Wenn ich ein juristisches Lehrstück geschrieben hätte, würde ich mich selbst wahnsinnig langweilen.“ Das Bühnenstück „Terror“ wurde im Vorjahr uraufgeführt und wird seither auf zahlreichen deutschsprachigen Bühnen gezeigt.

„Weichenstellerfall“ und „Trolley-Problem“

Die Frage, ob man eine kleine Gruppe Menschen im Zweifelsfall zugunsten einer größeren opfern darf, beschäftigt Rechtsphilosophen seit Jahrzehnten. Im Jahr 1951 entwickelte der deutsche Strafrechtswissenschaftler Hans Welzel den „Weichenstellerfall“. Die Annahme: Wegen einer falsch gestellten Weiche droht ein Güterzug, auf einen voll besetzten Personenzug aufzufahren. Ein Weichensteller erkennt die Gefahr und leitet den Zug auf ein Nebengleis um, auf dem fünf Gleisarbeiter stehen, die allesamt sterben. Wie ist die Strafbarkeit des Weichenstellers zu beurteilen?

Im englischen Sprachraum entwickelte die britische Philosophin Philippa Foot aus Welzels Beispiel das „Trolley-Problem“. Eine Straßenbahn ist außer Kontrolle geraten und droht, in eine fünfköpfige Gruppe zu rasen. Durch die Umstellung einer Weiche könnte das Unglück verhindert werden - allerdings bestünde die Möglichkeit, dass durch die Entscheidung eine Person ums Leben kommt. Darf der Tod dieser Person in Kauf genommen werden, um fünf andere zu retten, fragte Foot.

Der Fall von „Mary“ und „Jodie“

Während Welzels und Foots Beispiele nur Gedankenexperimente sind, hatte sich der Oberste Gerichtshof in Großbritannien tatsächlich einmal mit der sprichwörtlichen Entscheidung über Leben oder Tod zu befassen. Im Jahr 2000 ordneten die Richter gegen den Willen der strenggläubigen Eltern die operative Trennung von siamesischen Zwillingen an, die in den Gerichtsakten die Decknamen „Mary“ und „Jodie“ erhielten.

Marys Herz und Lungen waren unterentwickelt, im Gegensatz zu den Organen ihrer Schwester. Jodies Körper würde es aber nur maximal drei bis sechs Monate verkraften, die Schwester mitzuversorgen - nach dieser Zeit würden beide Kinder sterben. Bei einer Operation bestand aber ebenfalls das Risiko, das beide Kinder zu Tode kommen. Im Alter von drei Monaten wurden die Babys schließlich getrennt, Mary überlebte nicht. „Marys Schicksal war ein früher Tod“, bergründete Höchstrichter Alan Ward damals das Urteil. Sie lebe nur, weil sie vom Blut ihrer Schwester zehre, was eine Gefahr für Jodies Leben darstelle.

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