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„Demokratie muss gelernt werden“

Eine zersplitterte Parteienlandschaft, zu wenige politisch gebildete Bürger, ein Faible für populistische Charismatiker: So fassen Tschechien-Kenner die Gründe für die ablehnende Haltung des Landes gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen zusammen. Auch die Jahre der Isolation während des Kommunismus spielten eine Rolle. Das Land müsse Demokratie erst noch lernen.

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Durch die Festlegung von Quoten auf EU-Ebene fühle sich Tschechien offenbar bevormundet, und das befeuere das nationalistische und teils rassistische Klima in Tschechien, sagt die Tschechien-Expertin und langjährige Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi gegenüber ORF.at.

Tschechien wolle sich so wie Ungarn, Polen und die Slowakei von der EU nicht in die eigenen nationalen Belange hineinreden lassen. „Sie denken: Zuerst hat uns Österreich schikaniert, dann die Russen und jetzt die Europäische Union.“ Wer als Politiker gegen EU-Vorgaben auftrete, gewinne, meint Coudenhove-Kalergi.

Provokation, derber Witz und Charisma

Ein weiterer Grund, warum den populistischen Nationalisten die Leute zuliefen, sei die völlig zersplitterte politische Landschaft Tschechiens. Die klassischen politischen Gruppierungen gebe es nicht mehr. Die Christdemokraten seien so gut wie nicht mehr vorhanden, die Sozialisten stark geschwächt.

Die Bürgerinnen und Bürger Tschechiens hörten da lieber auf die starken Sprüche von Staatspräsident Milos Zeman oder vor ihm Vaclav Klaus. Klaus sei ein Nationalist a la Thatcher gewesen, Zeman habe zumindest Witz und eine große Lust zu provozieren. „Das lieben die Tschechen“, sagt Coudenhove-Kalergi, deren Familie aus Tschechien stammt und die dort viele Jahre als ORF- Korrespondentin verbracht hat. Andrej Babis, Chef der politischen Bewegung ANO sei ein neuer Typus von Politiker: reich und charismatisch.

Tschechischer Polizist mit Flüchtlingen

Reuters/Ognen Teofilovski

Seit Ende Juli kontrolliert Tschechien seine Grenzen wieder schärfer

Darüber hinaus sei aber auch die Zeit der Demokratie zu kurz gewesen, um aufgeklärte und humanistische Bewegungen fest zu etablieren, die es aber bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise brauche. Die Regierungszeit von Vaclav Havel sei eine „kurze Sternstunde der Moral gewesen, jetzt sehen wir wieder den Rückfall in die Kleingeisterei“, sagt die Journalistin.

Schlechte Stimmung trotz guter Wirtschaft

Auf die Frage, ob die tschechischen Bürgerinnen und Bürger Angst hätten, dass ihnen etwas weggenommen werde, sagt Coudenhove-Kalergi: „Es geht den Menschen in Tschechien doch ganz gut, ebenso wie in Polen.“ Tatsächlich wuchs die Wirtschaft laut tschechischem Statistikamt 2015 um 4,3 Prozent. Laut Internationalem Währungsfonds (IWF) ist die Budgetpolitik des Landes „sehr gut“. Auch die Organisation für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa(OECD) schätzt die makroökonomische Lage Tschechiens als gut ein, und die öffentlichen Finanzen seien zufriedenstellend.

Diese Wirtschaftsdaten dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich viele Tschechen weiterhin benachteiligt fühlen gegenüber Bürgern anderer EU-Staaten. Der Aufholbedarf war nach mehr als vier Jahrzehnten Kommunismus groß, und der Fortschritt geht vielen in Tschechien nicht rasch genug.

Auf Euphorie folgt Ernüchterung

Der Politologe Christian Härpfer von der Universität Wien stellt fest, dass die tschechische Bevölkerung nach 1989 eine kurze Phase der Euphorie hatte, in der die Erwartungen an Demokratie und Marktwirtschaft sehr hoch gesteckt wurden. Diese Hochstimmung sei am Ende der 90er Jahre durch eine Ernüchterung abgelöst worden, sagt er gegenüber ORF.at. Es gebe eine Minderheit an Gewinnern und eine Mehrheit an Verlierern der sozialen und politischen Transformationen nach 1989.

Vor allem der älteren Generation gehe es nicht gut. Die Pensionen seien sehr niedrig und lägen gegenwärtig zwischen 100 und 400 Euro, sagt Härpfer - und das schüre unter anderem die Angst, wegen der Flüchtlinge etwas zu verlieren. Sie pochen darauf, diese Zuwendung nach vierzig Jahren Arbeit in der tschechischen Wirtschaft verdient zu haben und verstehen nicht, dass Flüchtlinge aus Syrien oder dem Irak finanziell unterstützt werden sollen, die in ihren Augen für den Staat nichts geleistet hätten.

Eine gespaltene Gesellschaft

Die Flüchtlingskrise in Europa hat deshalb in Tschechien starke Auswirkungen auf das soziale Gefüge im Land, sagt auch der Migrationsforscher Jochen Oltmer. Es komme sehr schnell zu einer Unterscheidung in „sie“ und „wir“. Diese Spaltung wird noch dadurch befördert, dass viele Menschen eine Gesellschaft als einen Verteilungskonflikt verstünden, in dem um knappe Güter wie Arbeit, Wohnungen, politische Teilhabe und Sozialleistungen gekämpft werde.

Auch Oltmer sieht einen Generationenbruch in der tschechischen Gesellschaft. Die politisch Verantwortlichen seien in eher fortgeschrittenem Alter, sagte Oltmer in einem Interview mit der „Prager Zeitung“. Die Älteren seien auch von der langen Isolation des Landes im Kommunismus geprägt und hätten kaum Berührungspunkte mit Fremden. Auf der anderen Seite stünden junge Menschen, die Erfahrungen durch Tourismus, Auslands- und Studienaufenthalte hätten und wenig mit Vorstellungen von eng geschlossenen Gemeinschaften anfangen könnten.

Fremde Menschen, fremde Religion

Doch nicht nur die soziale Lage der Menschen in Tschechien und die Unterteilung zwischen Gewinnern und Verlierern durch den EU-Beitritt verschärft das politische Klima im Land. Es gebe eine lange Tradition des Rassismus in Tschechien, sagt der Politologe Härpfer. So würden „weiße“ Arbeitsmigranten aus der Ukraine, die einen christlich-katholischen oder christlich-orthodoxen Hintergrund haben, akzeptiert. Dunkelhäutige, muslimische Migranten würden hingegen massiv abgelehnt.

Nach einer langen historischen Periode von kommunistischem Atheismus und einer stark säkularisierten Gesellschaft werde jeder Einfluss von Religion auf Gesellschaft und Staat massiv und potenziell aggressiv abgelehnt. Der Islam als Religion werde grundsätzlich als Bedrohung für die tschechische Bevölkerung angesehen.

„Nationale Wiedergeburt“

Ähnlich argumentierte der Außenpolitikjournalist des „profil“, Georg Hoffmann-Ostenhof, in einem Kommentar im September des Vorjahres: „Die Revolutionen des Jahres 1989 wurden vielfach nicht nur als Sturz der kommunistischen Diktatur, sondern auch als Befreiung von der russischen Fremdherrschaft und als nationale Wiedergeburt empfunden.“

Die Bildung eines starken Nationalstaates sei rasch nachgeholt und wiederaufgenommen worden, schreibt Hoffmann-Ostenhof. Die westeuropäischen Länder hingegen, die schon länger am europäischen Integrationsprozess mitwirkten, hätten sich im Gegensatz dazu in einer „postnationalen Phase“ ihrer Entwicklung befunden.

Zivilgesellschaft zu wenig aktiv

Der tschechische Politikwissenschaftler Josef Mlejnek, Professor an der Prager Karlsuniversität, beklagte bei einem Vortrag der Konrad-Adenauer-Stiftung, dass der Stand der politischen Bildung in Tschechien sehr niedrig sei. „Die Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung in der Zivilgesellschaft und vor allem in den politischen Parteien ist kaum vorhanden und führt in der Tendenz zum bestehenden Klientelismus“, sagt Mlejnek.

Er vergleicht das Verhalten der Wähler mit einer Konsumgesellschaft, die sich bei der Wahlentscheidung nach dem Marketing entscheidet, wie beim Einkaufen im Supermarkt. Das erhöhe das Risiko, dass die Wähler auch weiterhin – wie schon 2013 - den Multimilliardär Babis wählen. Der Erfolg charismatischer Populisten spreche nicht für eine entwickelte Zivilgesellschaft. „Hier muss die tschechische Demokratie noch viel lernen“, sagt der Politikwissenschaftler.

Die Visegrad-Staaten wollen stark sein

Diese Phänomene sind nicht nur in Tschechien zu beobachten: Kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs haben Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei versucht, gemeinsam ein neues starkes Gewicht in Europa zu sein. Das Visegrad-Abkommen von 1991 zwischen den vier Staaten sei aber mit dem EU-Beitritt völlig in den Hintergrund getreten, stellt Coudenhove-Kalergi fest.

Visegrad-Pakt 1991 beschlossen

Im ungarischen Visegrad wurde am 15. Februar 1991 das Abkommen von den damaligen Gründerstaaten Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei beschlossen, um nach dem Ende von Ostblock und Kaltem Krieg die großteils gemeinsamen Probleme möglichst kooperativ zu lösen.

Jetzt sei das Bündnis wieder populär. Und diese Stärke wolle das Staatenquartett nun in der Flüchtlingsfrage beweisen. Man habe sich hier sowohl von Brüssel als auch Berlin bevormundet gefühlt, so die Journalistin.

Die vier Länder drängen auf Reformen in der EU, bei denen Brüssel möglichst wenige Befugnisse und die Nationalstaaten so große Entscheidungsspielräume wie möglich erhalten. So glauben Polen und Ungarn auch, lästige Rechtsstaatsprüfungen der EU abschütteln zu können. Und alle vier sehen die Chance, dass sich das Flüchtlingsthema für sie erledigt habe.

Neues Anti-Migranten-Bündnis

Die Diskussion über die Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden wurde vor Kurzem erneut entfacht, nachdem der tschechische Staatspräsident Milos Zeman sagte, man wolle überhaupt keine Flüchtlinge mehr im Land aufnehmen, denn damit schaffe man nur „einen Nährboden für barbarische Attacken“, wie die Beispiele in Frankreich und Deutschland zeigen würden.

Diese Aussage wurde vom deutschen EU-Kommissar Günther Oettinger zwar scharf kritisiert, doch innenpolitisch geht der Kurs gegen Flüchtlinge in Tschechien weiter. Eine neue parteiübergreifende „Plattform gegen Multikulturalismus“ setzt sich zum Ziel, die Bevölkerung über die „Entwicklung der Migration und die latente Islamisierung“ im Land zu informieren.

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