Erster Schritt im „Scheidungsprozess“
Beim Gipfel der EU-Staaten kommende Woche in Brüssel darf der britische Premier David Cameron zwar noch über die Lage in Großbritannien berichten, beim Treffen selbst soll er aber nicht mehr teilnehmen. Die EU-Staaten wollen nach dem „Brexit“-Referendum die nächsten Schritte zum Austritt Großbritanniens besprechen.
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Cameron soll am Dienstag beim Abendessen die anderen EU-Staatschefs über die aktuelle Lage informieren, dann aber soll er wieder nach London zurückkehren, schreibt EU-Ratspräsident Donald Tusk in der Agenda des zweitägigen Treffens. Am Mittwoch dann sollen die 27 EU-Staatschefs in einem „informellen“ Treffen über die politischen und praktischen Implikationen des „Brexit“ beraten, so Tusk. Man werde bei dem bereits länger geplanten Gipfel den „Scheidungsprozess“ besprechen.
Entwurf für „flexible Union“
Bereits am Samstag wollen die Außenminister der sechs Gründerstaaten der EU in Berlin zusammenkommen, um über die Folgen des „Brexit“-Referendums zu beraten. Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier lud dazu seine Kollegen aus Frankreich, Italien und den Benelux-Ländern ein. Deutschland und Frankreich wollen dabei gemeinsame Vorschläge zur Weiterentwicklung der EU vorlegen.
Im Entwurf für eine gemeinsame Erklärung ist von einer „flexiblen Union“ die Rede, die Raum lassen soll für Partnerländer, die weitere Integrationsschritte noch nicht mitgehen können oder wollen. Ziel ist, zu verhindern, dass sich eine Entwicklung wie in Großbritannien in anderen Staaten der EU wiederholt.
EU will schnelle Verhandlungen
Die EU-Spitzen hatten sich zuvor darauf verständigt, dass nach dem Ja zum „Brexit“ möglichst rasch Austrittsverhandlungen mit Großbritannien aufgenommen werden sollen. „Jede Verzögerung würde die Unsicherheit unnötig verlängern“, so EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, EU-Parlamentschef Martin Schulz, Ratschef Tusk und der niederländische Regierungschef Mark Rutte am Freitag in Brüssel. Man erwarte auch von Großbritannien, dass die nächsten Schritte so rasch wie möglich erfolgen - „wie schmerzhaft das auch sein möge“.

AP/Francois Lenoir
EU-Parlamentschef Martin Schulz, EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, der niederländische Regierungschef Mark Rutte und EU-Ratspräsident Donald Tusk
Bis der Prozess der Verhandlungen zu Ende sei, bleibe das Vereinigte Königreich Mitglied der EU, mit allen Rechten und Pflichten, die sich daraus ableiten. Die EU-Spitzen reagierten damit auf die Ankündigung Camerons, die Austrittserklärung seinem Nachfolger nach seinem bis Oktober angekündigten Rücktritt zu überlassen. Ein Teil des „Brexit“-Lagers spekuliert auch auf eine längere Übergangszeit bis zum Jahr 2019.
Hoffnung auf enge Partnerschaft
Die mit Großbritannien ausgehandelten Sondervereinbarungen vom Februar würden nicht in Kraft treten. Es gebe keine Neuverhandlungen. Man hoffe, sich das Vereinigte Königreich als engen Partner erhalten zu können. Bei dem Votum habe es sich um eine freie, demokratische Entscheidung gehandelt, die man bedauere, aber respektiere. Es handle sich um eine noch nie da gewesene Situation, auf die man sich allerdings vorbereitet habe, so Juncker.
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Applaus für Juncker
Keine zehn Minuten verbrachte der Kommissionspräsident im heillos überfüllten Pressesaal in Brüssel. Nach seinem Statement beantwortete er noch zwei Fragen und verließ dann unter Applaus das Podium.
Die EU wolle in dieser Situation vereint stehen und die Grundwerte der Friedens- und Wohlstandssicherung hochhalten. Die EU-Spitzen seien optimistisch, dass die verbleibenden 27 Staaten diesen Weg gemeinsam weitergehen. Bei der Union handle es sich um den Rahmen der gemeinsamen politischen Zukunft. Man sei verbunden durch Geschichte, Geografie und gemeinsame Interessen und wolle bestehende Probleme gemeinsam angehen.
Laut Juncker tritt nun Artikel 50 des Lissabonner Vertrages in Kraft. Dieser regelt den Austritt eines EU-Staates aus der Union. Eine abschließende Journalistenfrage, ob das der Anfang vom Ende der EU sei, verneinte Juncker, merkte aber an, der „Brexit“ habe „gewiss Auswirkungen“.
„Einschnitt für Europa und Einigung“
Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel trat am Freitag vor die Presse: Es gebe „nichts drumherum zu reden“: Die Entscheidung der Briten sei ein „Einschnitt für Europa“ und ein „Einschnitt für den Einigungsprozess“. Die Folgen für die nächsten Tage, Wochen, Monate und Jahre würden davon abhängen, ob die restlichen 27 Staaten „willens und fähig“ seien, die Lage mit Ruhe und Besonnenheit zu analysieren und dementsprechend zu handeln.

ORF
Merkel: Habe die Entscheidung der Mehrheit der Briten mit Bedauern zur Kenntnis genommen
Merkel kündigte ein europäisches Krisentreffen zum „Brexit“ am Montag in Berlin an. Dazu habe sie EU-Ratspräsident Donald Tusk, Italiens Regierungschef Matteo Renzi und Frankreichs Präsident Francois Hollande eingeladen, sagte Merkel am Freitag in Berlin. „Die Europäische Union ist stark genug, um die richtigen Antworten auf den heutigen Tag zu geben“, fügte sie hinzu.
Es sei nötig, die Vielfalt Europas und die verschiedenen Erwartungen aller Staaten zu achten. Man müsse sicherstellen, dass die europäischen Bürger und Bürgerinnen die Verbesserungen in ihrem Leben spüren. In einer Welt, die immer weiter zusammenwachse, seien die Herausforderungen für Alleingänge zu groß. Man dürfe auch nicht vergessen, dass der Ursprung der europäischen Einigung eine Friedensidee war.
„Schwieriger Moment“ für beide Seiten
Auch Schulz ergriff das Wort. Man sei sehr traurig über die Entscheidung der Wählerinnen und Wähler im Vereinigten Königreich, müsse aber den souveränen Wählerwillen achten. Es handle sich um einen „schwierigen Moment“ für beide Seiten. Er werde gemeinsam mit seinen Kollegen sorgfältig evaluieren, was es bedeutet, Artikel 50 auszulösen. Man sei vorbereitet, Stabilität sei nun auf beiden Seiten notwendig - man müsse überlegen, wie die EU verbessert und vor Auswirkungen von Turbulenzen geschützt werden kann.

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/Telegraph
Bereits zuvor hatten die größten Fraktionen im EU-Parlament auf Camerons Ankündigung, seinem Nachfolger den Startschuss für die EU-Austrittsverhandlungen zu überlassen, mit Unverständnis reagiert. Die britische Regierung solle den anderen Mitgliedsländern schon auf dem EU-Gipfel kommende Woche in Brüssel mitteilen, dass Großbritannien die Union verlasse, forderte der Chef der EVP-Fraktion, Manfred Weber (CSU). Auch Sozialisten und Sozialdemokraten, Liberale und Grüne wollen schnellstmögliche Klarheit.
EU will London mit „drei R“ begegnen
Die EU-Außenminister forderten nach einem Treffen in Luxemburg die britische Regierung ebenfalls dazu auf, rasch einen Antrag auf EU-Austritt zu stellen. Formell sei das Sache des Vereinigten Königreichs, sagte der niederländische Außenminister und EU-Ratsvorsitzende Bert Koenders am Freitag in Luxemburg. Man könne nicht beides haben. „Die große Mehrheit der Mitgliedsstaaten ist der Ansicht, dass das Vakuum nicht zu lange andauern sollte“, sagte Koenders. Die Phase der Unsicherheit müsse so kurz wie möglich dauern.
Koenders sprach von einer „konstruktiven Diskussion“ der EU-Außen- und Europaminister zu dem britischen Referendum. Die EU-27 würden London mit drei R begegnen, nämlich „regret“ (bedauern), „respect“ (respektieren) und „resolve“ (lösen). Bei dem Treffen habe es auch „eine klare Botschaft gegeben, dass das nicht das Ende Europas ist“.
Obama will mehr Zusammenarbeit
US-Präsident Barack Obama sagte nach einem Telefonat mit Cameron und Merkel, dass sich die USA mit den europäischen Verbündeten weiter abstimmen würden, um die Stabilität des globalen Finanzsystems sicherzustellen. Er sei sich mit Cameron darin sicher, dass das Land einen geordneten Ausstieg aus der Europäischen Union sicherstellen werde, so Obama. Er sei sich mit Merkel einig, dass die USA und die europäischen Partner in den kommenden Monaten eng zusammenarbeiten müssten.
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