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EU-Aufruf zu Geschlossenheit

Großbritannien hat am Donnerstag in einem Referendum mit 51,9 Prozent für einen EU-Austritt gestimmt. Die Reaktionen auf das Votum reichen von Enttäuschung, Beschwichtigung über Rufe nach Veränderung bis zu Freude im rechten Politlager über Großbritanniens Schritt. Indes wurden mehrere Krisentreffen angekündigt.

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EU-Ratspräsident Donald Tusk betonte die Geschlossenheit der übrigen 27 Mitgliedsstaaten. Die Regierungen seien entschlossen, die restliche Staatengemeinschaft zusammenzuhalten, sagte Tusk am Freitag in Brüssel.

„Kein Moment für hysterische Reaktionen“

Tusk räumte ein, dass es ein ernster und dramatischer Moment sei. „Aber es ist kein Moment für hysterische Reaktionen. Wir haben uns auf dieses Szenario vorbereitet.“ Die Folgen des Ausgangs des Referendums seien noch nicht absehbar. Die vergangenen Jahre seien die schwierigsten in der Geschichte der EU gewesen, sagte Tusk zum Abschluss. „Aber wie mein Vater immer gesagt hat: Was dich nicht umbringt, macht dich nur stärker.“

Die Lehre aus der Entscheidung der Briten ist nach Einschätzung von Euro-Gruppe-Chef Jeroen Dijsselbloem, dass die EU nicht weiter auf dem Weg der tieferen Integration oder Erweiterung voranschreiten kann. Die erste Aufgabe der Staats- und Regierungschefs in Europa sei nun, für Stabilität zu sorgen, sagte Dijsselbloem am Freitag vor einer Kabinettssitzung in Den Haag.

Merkel lädt zu Vierergipfel

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel lud für Montag zu einem Vierergipfel in Berlin ein. An dem Treffen im Kanzleramt sollen Frankreichs Präsident Francois Hollande, Italiens Regierungschef Matteo Renzi sowie EU-Ratspräsident Donald Tusk teilnehmen. Merkel betonte am Freitag: „Deutschland hat ein besonderes Interesse und eine besondere Verantwortung, dass die europäische Einigung gelingt.“

Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck äußerte sich allerdings betroffen über das britischen Votum. „Viele gute Europäer haben heute traurige Gefühle“, sagte Gauck. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier will sich mit Ministern aus den EU-Gründerstaaten Frankreich, Italien und den Benelux-Ländern treffen, kündigte das Auswärtige Amt an. Darüber zeigt sich Estland irritiert: Sollte die Einheit der 27 EU-Mitglieder nach dem „Brexit“-Votum nun eine Priorität sein, vermittle das Treffen nicht gerade diese Botschaft, schrieb Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves auf Twitter.

Hollande will „Aufbäumen“

Hollande forderte ein Aufbäumen Europas. „Damit Europa voranschreiten kann, darf es nicht mehr so weitermachen wie bisher“, sagte er am Freitag in Paris. Die britische Entscheidung verlange es auch, sich die Mängel im Funktionieren Europas und den Vertrauensverlust der Völker in das von Europa verkörperte Projekt bewusst zu machen.

Frankreichs Außenminister Jean-Marc Ayrault rief Europa dazu auf, „das Vertrauen der Völker“ zurückzugewinnen. Europa müsse reagieren, schrieb Ayrault am Freitagvormittag im Kurzmitteilungsdienst Twitter in der ersten offiziellen Reaktion der französischen Regierung. Ayrault schrieb, er sei „traurig für Großbritannien“.

„Europa unser Zuhause, unsere Zukunft“

Rufe nach Veränderung kommen aus Italien. Die Union müsse nun menschlicher und gerechter werden, so Premier Matteo Renzi. „Aber Europa ist unser Zuhause, unsere Zukunft“, schrieb der Ministerpräsident auf Twitter und Facebook. Der belgische Regierungschef Charles Michel forderte als Reaktion auf das Referendum im kommenden Monat einen Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs. Das Abstimmungsergebnis sei eine „Ohrfeige für das Projekt Europa“, sagte Michel am Freitag in Brüssel.

Spanien ist nach den Worten von Ministerpräsident Mariano Rajoy in der Lage, jeglichen wirtschaftlichen Schock nach der Entscheidung der Briten zu überstehen. Sein Land werde der EU verpflichtet bleiben, versprach der amtierende Regierungschef. Die EU müsse reformiert werden, sie werde den Rückschlag des „Brexit“ aber wegstecken. Spaniens Außenminister Jose Manuel Garcia-Margallo erneuert nach dem „Brexit“-Votum die spanischen Ansprüche auf Gibraltar und fordert eine „Ko-Souveränität“.

Der griechische Regierungschef Alexis Tsipras hat die EU zu einem Politikwechsel aufgefordert. Das Ergebnis müsse als Weckruf an die Europäische Union aufgenommen werden. „Der überhebliche Diskurs der Eurokraten erzürnt die Menschen.“ Eine Politik- und Mentalitätswandel sei nötig, um dem Euroskeptizismus Einhalt zu gebieten, sagte Tsipras. Er nannte als Beispiele die zu wachsenden Ungleichheiten führende strikte Fiskalpolitik, eine „Migration a la Carte“ und die EU-Grenzschließungen in der Flüchtlingskrise, die den „Graben zwischen dem Norden und dem Süden Europas vertieft“ hätten.

Obama betont enge Verbindung

Die USA und Großbritannien bleiben einander laut US-Präsident Barack Obama auch nach der „Brexit“-Entscheidung auf besondere Weise verbunden. In einer vom Weißen Haus verbreiteten Mitteilung hieß es am Freitag: „Das Volk des Vereinigten Königreichs hat gesprochen - und wir respektieren seine Entscheidung.“

Obama erklärte, die Mitgliedschaft Großbritanniens in der NATO bleibe für die USA ein wesentlicher Eckstein ihrer Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik. Gleiches gelte für die Beziehungen zur Europäischen Union, die so viel getan habe, um Stabilität zu gewährleisten, Wirtschaftswachstum anzukurbeln und demokratische Werte und Ideale über den Kontinent und darüber hinaus zu verbreiten.

„Unerlässliche Partner“

„Das Vereinigte Königreich und die EU bleiben auch dann unerlässliche Partner für die USA, wenn sie ihre aktuellen Beziehungen zu verhandeln beginnen“, erklärte Obama. Das stelle Stabilität, Sicherheit und Wachstum für Europa, Großbritannien, Nordirland und die Welt sicher.

Auch für NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg ändert der „Brexit“ nichts an der Stellung des Landes im westlichen Verteidigungsbündnis. „Das Vereinigte Königreich bleibt ein starker und engagierter NATO-Verbündeter und wird weiterhin seine Führungsrolle in unserer Allianz spielen“, sagte Stoltenberg am Freitag in Brüssel.

Putin will womöglich Wirtschaftspolitik ändern

Der russische Präsident Wladimir Putin hat den Schritt als Protest gegen eine zunehmende Machtfülle der Brüsseler Bürokratie bezeichnet. Manchen Menschen gefalle dieses „Verwischen von Ländergrenzen“, anderen wiederum nicht. „Der überwiegenden Mehrheit der Briten, scheint es, gefällt es nicht“, sagte Putin der Agentur Interfax zufolge. In der Entscheidung spiegle sich auch die Unzufriedenheit vieler Briten mit der Zuwanderung sowie in Sicherheitsfragen wider.

Äußerungen des britischen Premierministers David Cameron über ein angebliches Interesse Moskaus an einem EU-Ausstieg Londons entbehrten jeder Grundlage. „Russland hat sich in die Frage eines ‚Brexits‘ nie eingemischt, nie darüber geäußert, es hat sie nicht beeinflusst und dies auch nie versucht“, meinte Putin. Putin schloss eine Änderung der russischen Wirtschaftspolitik nicht aus, um den Einfluss des britischen EU-Austritts zu mindern.

Orban hält Flüchtlingskrise für zentralen Faktor

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban hält die Flüchtlingskrise für den entscheidenden Faktor des Votums. Die Briten seien mit der EU-Flüchtlingspolitik unzufrieden. Sie hätten eine Antwort auf die Frage gesucht, wie man die „moderne Völkerwanderung“ aufhalten und wie sie „ihre Insel erhalten“ könnten, sagte der nationalkonservative Politiker am Freitag in einem Interview des ungarischen Rundfunks.

Polen sieht ein Warnsignal an die gesamte EU. Jetzt gelte es, einen Domino-Effekt zu vermeiden, so der polnische Präsident Andrzej Duda. Nach Ansicht des Vorsitzenden der polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit, Jaroslaw Kaczynski, braucht die EU nun eine neue vertragliche Grundlage. „Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Wir brauchen einen neuen europäischen Vertrag“, sagte Kaczynski. Der tschechische Regierungschef Bohuslav Sobotka sieht die Entscheidung der Briten für den EU-Austritt nicht als „Ende der Welt und der EU“, aber als „unumkehrbare Entscheidung“.

Jubel von rechts

Die Chefin von Frankreichs rechtsextremer Front National, Marine Le Pen, forderte weitere Abstimmungen in den EU-Mitgliedsstaaten. „Sieg der Freiheit!“, schrieb Le Pen auf Twitter. „Wie ich es seit Jahren fordere, brauchen wir jetzt dasselbe Referendum in Frankreich und in den Ländern der EU.“

Auch der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders will nun auch in den Niederlanden eine Volksabstimmung. „Die Niederländer haben auch das Recht auf ein Referendum“, so der Vorsitzende der rechtspopulistischen Partei für die Freiheit (PVV). Seine Partei fordere „ein Referendum über den Nexit, einen niederländischen Austritt aus der EU“. Regierungschef Mark Rutte wies die Forderung zurück: „Ich glaube nicht, dass an einem Referendum großes Interesse besteht“.

Der deutsche AfD-Fraktionsvorsitzende in Thüringen, Björn Höcke, forderte ebenfalls eine Volksabstimmung über einen Verbleib Deutschlands in der Union. Italiens europakritische Oppositionspartei Lega Nord begrüßte den Ausgang des Referendums. „Es lebe der Mut der freien Briten. Herz, Verstand und Stolz besiegen die Lügen, Drohungen und Erpressungen. Danke, UK, jetzt kommen wir dran!“, twitterte Lega-Nord-Chef Matteo Salvini.

Türkei: Zerfall hat begonnen

Als schweren Schlag für den europäischen Gedanken wertete der türkische Vizepremier Nurettin Canikli das Votum der Briten. „Das Auseinanderfallen der Europäischen Union hat begonnen. England ist das erste Land, welches das Schiff verlassen hat“, zitierte der Sender CNN Turk den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der regierenden AKP am Freitag. Wirtschaftsminister Mehmet Simsek warnte auf Twitter: „Ihr wolltet nicht die Büchse der Pandora öffnen, aber ihr habt es bereits getan.“

Trump begeistert, Clinton betont Freundschaft

Hillary Clinton, voraussichtliche Präsidentschaftskandidatin der US-Demokraten, will die negativen Folgen des „Brexit“ auf die US-Wirtschaft so gut wie möglich eingrenzen. Die frühere Außenministerin sagte, die „besondere Beziehung“ zwischen Großbritannien und der transatlantischen Allianz und den USA sei weiterhin unverbrüchlich.

Der republikanische US-Präsidentschaftsbewerber Donald Trump begrüßte das Resultat als „großartige Sache“. Ihm zufolge hat der Zerfall der EU „vermutlich“ begonnen. An den Beziehungen zwischen Großbritannien und den USA werde sich nichts ändern.

Australischer Premier beruhigt

Der „Brexit“ sollte nach Ansicht des australischen Premiers Malcolm Turnbull die Bürger des Commonwealth-Staates nicht beunruhigen. Die Wirtschaft sei stark und belastbar und habe bereits in der Vergangenheit globale Schocks gut überstanden, sagte Turnbull.

Der japanische Premierminister Shinzo Abe sagte als Vorsitzender der G-7, man habe sich auf Maßnahmen zur Stabilisierung der Märkte verständigt. Der „Brexit“ werde aber spürbare Folgen für Japans Wirtschaft haben. China betonte nach der Entscheidung die engen Beziehungen zur EU. Man vertraue auf die Zusammenarbeit mit der EU, sagte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums in Peking.

UNO freut sich auf weitere Zusammenarbeit

UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon erwartet von Großbritannien trotz des Votums für den EU-Austritt weiter eine führende Rolle in den Vereinten Nationen. „In der UNO freuen wir uns auf eine Fortsetzung der Arbeit mit Großbritannien und der EU. Beide sind wichtige Partner“, sagte Bans Sprecher Stephane Dujarric am Freitag.

Für Papst Franziskus erfordert die Entscheidung für ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU ein großes Maß an Verantwortung in Europa. Mit dem Votum sei „der Wille des Volkes“ zum Ausdruck gebracht worden, sagte das Oberhaupt der katholischen Kirche laut der italienischen Nachrichtenagentur ANSA am Freitag während des Flugs nach Armenien vor Journalisten - mehr dazu in religion.ORF.at.

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