Banges Warten vor Entscheidung
Die Angst vor einem Austritt der Briten aus der Europäischen Union hat auf den internationalen Finanz- und Devisenmärkten für die ersten größeren Schockwellen gesorgt. Viele Anleger zogen sich aus Unsicherheit vor der Entscheidung aus Aktien zurück - obwohl die Abstimmung in erst knapp zwei Wochen erfolgt. Doch die Sorge beherrscht längst die ganze Finanzwelt.
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Der deutsche Aktienindex DAX sackte am Freitag erstmals seit zweieinhalb Wochen unter die viel beachtete Marke von 10.000 Punkten. Beim Eurostoxx50 ging es um 2,5 Prozent nach unten. Und auch auf der Wall Street war die Stimmung schlecht.
Deutsche Bundesanleihen fast ohne Rendite
Gefragt waren bei Anlegern die international richtungsweisenden zehnjährigen deutschen Bundesanleihen, deren Rendite erneut stark unter Druck geriet. Sie fiel erstmals unter 0,01 Prozent - es war der vierte Tag in Folge mit einem Rekordtief. Börsianer rechnen damit, dass die Null-Prozent-Marke in den nächsten Tagen erreicht wird. Anleger müssten dann dafür bezahlen, dem Bund Geld leihen zu dürfen.
Geld in Tresor bunkern?
Die Frage, wohin man nun mit dem Geld soll, wird für Anleger und Banken immer drängender. Die deutsche Commerzbank etwa überlegt wegen der Strafzinsen der Europäischen Zentralbank (EZB) auf Einlagen, Bargeld in großem Stil in Tresoren zu bunkern. „Der Bericht hat große Wellen geschlagen und gilt als Grund für breitgefächerte Euro-Verkäufe“, schrieben die Analysten der National Australia Bank in einem Kommentar.
Stimmen die Briten für den Ausstieg aus der EU, würde dieses Problem noch drängender. Etwa in der Schweiz: Mit einem sinkenden Pfund würde wohl der Franken steigen, was die Negativzinsen noch weiter treiben könnte.
Run auf Gold
Vor allem Gold als sicherer Hafen ist begehrt - und das nicht nur bei Großanlegern. Britische Goldhändler berichten von einem wahren Run. „Alle unsere Bestände werden aufgekauft, bevor sie auch nur den Laden erreichen“, sagte ein Händler gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.
„Brexit“-Sorgen und allgemeine Konjunkturängste treiben den Goldpreis seit Monaten weltweit in die Höhe. Eine Unze kostet inzwischen 870 Pfund (1.114,70 Euro), gut 150 Pfund mehr als zu Jahresbeginn. Besonders für Briten könnte sich der Einstieg jetzt lohnen, wenn es zum „Brexit“ kommt. Fällt das Pfund in diesem Fall tatsächlich wie erwartet, bringt das Edelmetall bei einem Verkauf mehr Pfund ein. Fachleute sagten zuletzt einen Kursverlust des Pfund von neun Prozent voraus.
Fed wartet ab
Die US-Notenbank Fed wiederum wird aller Voraussicht nach ob der „Brexit“-Unsicherheit vorerst Zinserhöhung wagen. Börsianer halten es für praktisch ausgeschlossen, dass es auf der Sitzung am 15. Juni zur ersten Anhebung heuer kommt. Der Zeitpunkt wäre wohl zu heikel: Sollten sich die Briten wenige Tage später aus der EU verabschieden, drohen internationale Turbulenzen an den Finanzmärkten. Auch die US-Konjunktur wäre betroffen, warnte Fed-Chefin Janet Yellen jüngst - und gab Investoren damit einen Wink mit dem Zaunpfahl.
Kapitalabfluss aus London
In Großbritannien selbst werben die „Brexit“-Befürworter damit, dass ein Ausstieg aus der EU dem Finanzplatz London gar nichts anhaben wird. Vorläufige Daten sehen aber anders aus. Die Bank of England (BoE) gab vor einigen Tagen bekannt, dass allein im März und April bereits Vermögenswerte in Höhe von 65 Milliarden Pfund (82,5 Mrd. Euro) abzogen und in andere Länder und Währungen transferiert worden seien. Von November bis Ende April seien es insgesamt 77 Milliarden Pfund gewesen, in den sechs Monaten davor nur zwei Milliarden.
Dyson: Mehr Wohlstand durch Austritt
Der Erfinder des beutellosen Staubsaugers, James Dyson, hat sich knapp zwei Wochen vor dem „Brexit“-Referendum für einen Austritt seines Landes aus der EU ausgesprochen. Das Land könne außerhalb der EU „mehr Wohlstand und mehr Jobs“ schaffen, sagte der Selfmade-Milliardär der Zeitung „Daily Telegraph“.
Vor allem werde Großbritannien durch einen Austritt aus der Europäischen Union „die Kontrolle über sein Schicksal“ wiedererlangen. „Und ich glaube, dass Kontrolle die wichtigste Sache in Leben und Wirtschaft ist.“ Als „Blödsinn“ wies er Warnungen der EU-Befürworter zurück, dass ein Austritt den Außenhandel des Landes negativ treffen würde.
Für Retourkutsche
Sollte die EU tatsächlich Zölle einführen, „werden wir im Gegenzug dasselbe machen“. „Die EU würde dann wirtschaftlichen Selbstmord begehen, weil wir (für) 100 Milliarden Pfund (127 Mrd. Euro) importieren und nur für zehn Milliarden Pfund ausführen“, verwies Dyson auf den massiven Handelsbilanzüberschuss der EU-Staaten mit Großbritannien.
Dyson gilt als erfolgreichster Erfinder der Gegenwart. Er hat Anfang der 1990er Jahre den Staubsauger ohne Beutel erfunden, konnte aber keinen der Branchenriesen dafür gewinnen, ihn zu produzieren. Also brachte er ihn im Jahr 1992 selbst auf den Markt. Mittlerweile ist der „Dyson“ zum Kultobjekt geworden. Obwohl seine Technologie mittlerweile von den großen Konzernen kopiert wird, kann Dyson weiterhin Millionen Staubsauger rund um den Erdball zu hohen Preisen absetzen.
Was machen die Großbanken?
Doch nicht nur die Anleger, auch die Finanzhäuser selbst zittern: Banken, Versicherungen und Börsenplätze stellen sich dieselbe Frage: Was ist, wenn die Briten für den EU-Austritt stimmen? Großbanken wie HSBC und Deutsche Bank haben schon mit der Geschäftsverlagerung in andere Länder gedroht. Im Fall eines „Brexit“ könnten Schätzungen zufolge rund 100.000 Arbeitsplätze in der Londoner City verloren gehen.
Die BoE kündigte an, die Liquidität erhöhen zu wollen, um eine Kreditklemme wie in der Finanzkrise 2008/09 zu verhindern. Bei den Großbanken gibt es Notfallpläne. Genaueres wollen die Institute zwar nicht verraten, es wird aber vermutet, dass sie vor allem versuchen, ihre Reserven aufzustocken - also Bargeld, hochwertige Finanztitel und andere Wertpapiere, die durch einen „Brexit“ nicht in Mitleidenschaft gezogen würden, zu bunkern.
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