System „gesellschaftlich überholt“
Der am Mittwoch präsentierte Nationale Bildungsbericht 2015 spricht sich unter anderem für die Einführung eines Sozialindex für Schulen aus. So sollen die Auswirkungen der Zusammensetzung von Klassen verbessert werden. Zudem soll die Förderung individueller und die Rolle der Bundesländer in der Schulpolitik beschnitten werden, empfiehlt der Bericht.
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Die Zusammensetzung vieler Klassen und Schulen führt derzeit zu einer Art schulischem Matthäus-Prinzip nach dem Motto: Wer viel hat, dem wird gegeben, wer wenig hat, dem wird auch das genommen. „Wo viele Schüler mit lernhemmenden Eigenschaften zusammengefasst werden, ergibt sich nicht nur der zu erwartende negative Effekt, sondern es kommt noch ein Malus dazu, weil sich diese Effekte verstärken“, so Herausgeber Ferdinand Eder. Vor allem an Gymnasien entstehe umgekehrt neben den erwartbar guten Effekten ein Bonus, weil die Schüler zusätzliche Leistungsdynamik entwickelten.
Auch Schulen selbst könnten System aufbrechen
Bestes Beispiel für eine Häufung negativer Effekte sei etwa Wien: Die Bundeshauptstadt mit ihrem hohen Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund erhalte den größten Anteil an Flüchtlingskindern, so Eder. So entstünden Brennpunktschulen mit einem zusätzlichen Malus. Dieser Entwicklung lasse sich aber bildungspolitisch nur schwer gegensteuern - das gehe nur über Sozial- und Wohnbaupolitik.
Innerhalb der Schulen sollten zumindest die Klassen reflektiert zusammengesetzt werden. „Einfach nach dem Zufallsprinzip, etwa alphabetisch“, so Eder. Die oft übliche Zusammensetzung nach bestimmten Kriterien (die leistungsstärkeren in die A-Klasse, die Kinder mit Nachmittagsbetreuung in die eine Klasse, die ohne in die andere) führe oft zu einer weiteren Häufung negativer Effekte. Wo ein Ausgleich nicht möglich sei, bedürfe es zusätzlicher Ressourcen, um eine Differenzierung zu ermöglichen.
„Hat eigentlich nie funktioniert“
Außerdem müsse viel stärker auf individuelle Förderung der Schüler gesetzt werden als auf Versuche, Leistungsgruppen mit möglichst gleichem Niveau zu schaffen. Das habe ohnehin „etwa in der Hauptschule nie funktioniert - und sonst eigentlich auch nicht“. Dass ein Lehrer mit einem auf den Durchschnitt ausgelegten Unterricht alle erreicht, lasse sich aufgrund der wachsenden Vielfalt in der Schülerschaft ohnehin nicht mehr verwirklichen.
Das Problem derzeit sei auch die Illusion, Schüler irgendwie in die für sie passende homogene Gruppe hinunterstufen zu können, meinte Eder. Das beginne an der AHS-Unterstufe und habe sich in der Hauptschule fortgesetzt: „Solange es irgendwie geht, wird nach unten weitergeleitet.“ Dabei dürfe es eben nicht darum gehen, die Kinder in die vermeintlich richtige Gruppe abzuschieben, sondern sich selbst um sie zu kümmern - organisatorisch unterstützt durch mehr Unterrichts- und Lernzeit etwa in Ganztagsangeboten.
„Völlige Abkehr“ von Selektionsgedanke nötig
An den Pädagogen würde eine Umstellung des Systems nicht scheitern, ist Eder überzeugt: „Wer wie ich im ländlichen Raum aufgewachsen ist, hat ja mitbekommen, dass der Lehrer ganz locker vier Jahrgangsstufen in einem Raum unterrichtet hat.“ Der Bericht fordert aber ein Abgehen von bisherigen Bildungsdogmen, die durch den gesellschaftlichen Wandel gleich in mehrfacher Hinsicht überholt seien.
Der „rapide Wandel der Schülerschaft“ lasse die traditionelle Form der Förderung „obsolet erscheinen“, so der Bericht. Außerdem brauche es eine „völlige Abkehr“ vom Selektionsgedanken: Die Idee einer „Sortierung“ von Kindern in „leistungsstarke, die für höhere Laufbahnen bestimmt sind, und leistungsschwache“ sei „gesellschaftlich überholt“. In einer Wissensgesellschaft müssten längst alle zu einem möglichst hohen Kompetenzniveau geführt werden, um bestehen zu können.
Kampfansage an Landespolitik
Der Bericht rührt an einem weiteren großen Tabu der heimischen Bildungspolitik, nämlich der Rolle der Bundesländer. Klar empfiehlt er eine Zusammenfassung der Schulkompetenzen beim Bund und untermauert das mit Zahlen zu den beträchtlichen Schwankungen bei Kosten, Budgets und erreichten Bildungserfolgen, denen es aus Sicht des Berichts völlig an Transparenz und Kontrolle mangelt.
Für Hammerschmid „klares Bild“
Für SPÖ-Bildungsministerin Sonja Hammerschmid zeichnet der Bildungsbericht ein klares Bild. Die soziale Durchmischung an den Schulen sei nicht ausreichend gegeben, Bildung werde großteils immer noch vererbt. „Das muss sich ändern“, so Hammerschmid in einer Aussendung. Im Mittelpunkt müsse dabei die Frage stehen, wie die vorhandenen Potenziale der Kinder besser gefördert werden können. Dazu müsse eine neue Lernkultur etabliert werden.
An der Unterstützung der Grünen würde das offenbar nicht scheitern. Sie setzen „sehr darauf, dass (...) Hammerschmid ihr Versprechen einlöst, die Bildungsreform auf Basis von Fakten und Zahlen umsetzen zu wollen“. Im Grunde wisse man aber auch so „schon lange, was im österreichischen Bildungssystem zu ändern ist“. Auch die Grünen sehen im Selektionsgedanken ein Defizit, das nur „Lernbegeisterung und Neugier hemmt“.
FPÖ sieht „Liste an Arbeitsaufträgen“
Auch NEOS und Industriellenvereinigung (IV) sehen jeweils Handlungsbedarf. „Es sollte nun auch der Regierung klar sein, wohin die Reise gehen muss“, so NEOS-Chef Matthias Strolz in einer Aussendung. „Wir brauchen endlich eine indexbasierte Verteilung der finanziellen Mittel, klare Strukturen in der Schulverwaltung sowie eine umfassende Autonomie in pädagogischer, personeller und finanzieller Hinsicht für die Schulen.“
IV-Generalsekretär Christoph Neumayer verlangte in einer Aussendung eine bessere individuelle Förderung aller Kinder, eine Verringerung der Segregation am Schulstandort und im System, eine Professionalisierung von Schulleitung und Pädagoginnen und Pädagogen sowie „längst überfällige Veränderungen in der Schulverwaltung“. Die FPÖ sieht den „Stillstand in der heimischen Bildungspolitik dokumentiert“ und in den Punkten des Berichts „eine lange Liste an Arbeitsaufträgen“ für die Regierungsmannschaft nach dem proklamierten Neustart.
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