Themenüberblick

Viel Anerkennung und ein wenig Kritik

Im Vorhinein war von einem Drahtseilakt die Rede gewesen, am Ende hat es vorrangig Lob und Anerkennung gegeben: Nach dem Besuch eines Flüchtlingslagers nahe der türkisch-syrischen Grenze würdigten die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und EU-Ratspräsident Donald Tusk die Anstrengungen Ankaras in der Flüchtlingskrise.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Mit der Aufnahme von drei Millionen Menschen habe die Türkei „den allergrößten Beitrag“ bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise übernommen, sagte Merkel im türkischen Gaziantep, einer Stadt nahe der Grenze zu Syrien. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu bekräftigte, die im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens vereinbarte Visafreiheit für türkische Bürger sei „essentiell“.

EU-Vizekommissionspräsident Frans Timmermans, EU-Ratspräsident Donald Tusk, der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel

Reuters/Umit Bektas

Davutoglu, Tusk, Timmermans und Merkel bei der Pressekonferenz

Türkei ‚bestes Beispiel‘ für Umgang mit Flüchtlingen

EU-Ratspräsident Tusk sagte bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Merkel, Davutoglu und Vize-EU-Kommissionspräsident Frans Timmermans, die Türkei sei „heute das beste Beispiel für die Welt insgesamt, wie wir mit Flüchtlingen umgehen sollten“. Keiner habe „das Recht, belehrend auf die Türkei einzuwirken, wenn es darum geht, wie man sich richtig verhält“. Der Flüchtlingszuzug über die Ägäis hätte mit dem EU-Türkei-Abkommen „deutlich abgenommen“.

Zahlreiche NGOs, darunter Amnesty International, kritisieren hingegen, die Türkei sei kein sicheres Zufluchtsland. Den Vorwurf, die Türkei schicke Flüchtlinge gegen ihren Willen nach Syrien zurück, wies der Ministerpräsident zurück. „So etwas machen wir nicht“, sagte er.

Besuch in Flüchtlingslager

Merkel, Tusk und Timmermans hatten zuvor das Flüchtlingslager Nizip 2 nahe Gaziantep besucht, in dem nach türkischen Angaben 5.000 Menschen leben, darunter 1.900 Kinder. Über dem Eingang zum Flüchtlingslager prangte ein Banner mit der Aufschrift „Willkommen in der Türkei, dem Land, das die meisten Flüchtlinge der Welt aufnimmt“. Merkel weihte außerdem mit Davutoglu ein mit EU-Geldern finanziertes Kinderschutzzentrum in Gaziantep ein. Es gebe viele Waisen, viele Kinder mit Behinderungen, viele traumatisierte Eltern, fasste die Kanzlerin ihre Eindrücke zusammen.

Ahmet Davutoglu und Angela Merkel

Reuters/Bundesregierung/Steffen Kugler

Merkel mit Davutoglu auf dem Gelände des Flüchtlingscamps

Eine Milliarde für Flüchtlingsprojekte in der Türkei

Laut Tusk wird die EU noch bis Ende Juli rund eine Milliarde Euro für Flüchtlingsprojekte in der Türkei freigeben. Das Geld stammt aus den drei Milliarden Euro, die die EU in einem ersten Schritt für Projekte zahlen will, um das Leben der rund 2,7 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei zu verbessern. Dazu gehören der Aufbau von Schulen, Betreuungsprojekten und die bessere Versorgung von Syrern.

EU-Vizekommissionspräsident Frans Timmermans, EU-Ratspräsident Donald Tusk, der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zerschneiden gemeinsam ein Band

APA/AP/Hakan Goktepe

Die Politiker bei der Einweihung eines Kinderschutzzentrums

Merkel betonte, dass nur zehn bis 15 Prozent der Flüchtlinge bisher in den Genuss etwa von schulischen Angeboten kämen, weil sie nicht innerhalb von Flüchtlingscamps wohnten. Hier wolle die EU helfen. Bisher sind erst 93 Millionen Euro für solche Projekte freigegeben, die die EU-Kommission prüfen und genehmigen muss. Timmermans kündigte an, dass die EU künftig für neue Projekte auch direkt Verträge etwa mit türkischen Schulbehörden schließen könne.

Drängen auf Visafreiheit

Davutoglu bekräftigte die Forderung Ankaras nach einer Visafreiheit für Türken bei Reisen in den Schengen-Raum. Die Visabefreiung ist Teil des EU-Türkei-Pakts zur Eindämmung des Flüchtlingsandrangs in die EU. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte zuletzt gewarnt, die Umsetzung des Pakts sei an die Gewährung der Visafreiheit gekoppelt.

Ein Entwurf der EU zu den geplanten Visaregelungen soll am 4. Mai vorliegen. In mehreren EU-Staaten gibt es aber Bedenken gegen die Reiseerleichterungen. Ungarns Regierungschef Viktor Orban, einer der entschiedensten Kritiker Merkels in der Flüchtlingskrise, sagte der „Wirtschaftswoche“ dazu: „Wir sind der Türkei ausgeliefert. So etwas ist nicht gut.“ Die Sicherheit der Europäischen Union dürfe „sich nicht in der Hand einer Macht außerhalb der EU befinden“.

Differenzen in Sachen Pressefreiheit

Doch es gab auch Differenzen: So wies Davutoglu Mahnungen der EU zur Einhaltung der Pressefreiheit zurück und erhob neue Vorwürfe im Fall Böhmermann. Er habe mit Merkel und Tusk über diese Themen geredet. „Wir können nicht akzeptieren, dass wir von oben und außen beurteilt werden“, sagte er. Ohne den Satiriker Jan Böhmermann namentlich zu nennen, kritisierte er den Beitrag über Erdogan. „Pressefreiheit kann es nur zusammen mit der Menschenwürde geben“, sagte er. Das sei bei einem sogenannten „Schmähgedicht“ aber nicht gewahrt.

Bedeutung der Meinungsfreiheit betont

Sowohl Merkel als auch Tusk betonten dagegen die Bedeutung der Meinungsfreiheit. Man habe auch über den Fall eines ARD-Journalisten gesprochen, dem die Einreise in die Türkei verweigert worden war, sagte Merkel. Sie räumte ein, dass man sich nicht einig geworden sei. Das komme allerdings auch in Diskussionen mit EU-Ländern vor.

„Bis jetzt haben Gespräche dazu geführt, dass wir mehr Fortschritte haben, als wenn wir nicht miteinander geredet hätten“, sagte sie und wies damit Vorwürfe zurück, dass die EU trotz des repressiven Vorgehens der Türkei gegen Medien eng mit der Regierung in Ankara in der Flüchtlingskrise zusammenarbeite.

Tusk verwies auf eine sehr feine Grenze zwischen Kritik, Beleidigung und Diffamierung. Wenn Politiker über diese Grenze selbst entscheiden wollten, „könnte das das Ende der Meinungsfreiheit sein“, warnte er. Ohne Erdogan beim Namen zu nennen, sagte er, Politiker müssten sich ein dickes Fell zulegen.

Links: