Auf Kosten der Sicherheit
Ganze Dörfer sind dem Erdboden gleichgemacht worden, Hochhäuser sind eingestürzt, über 9.000 Menschen sind beim Beben in Nepal vor genau einem Jahr gestorben. NGOs und Lokalmedien treiben den Wiederaufbau voran - aber es fehlt am Geld. Regierungsquerelen bremsen die Bemühungen, während Medien davor warnen, dass das wirklich große Beben noch aussteht.
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Wandertag der „Nepali Times“ auf einem der Hügel rund um Kathmandu, vor genau einem Jahr. Einer von den Wanderern war Kunda Dixit, Herausgeber der weit über die Grenzen des Landes angesehenen Zeitung, der mitunter auch für die „New York Times“ schreibt. Neben Branchentratsch und strategischen Überlegungen war wie immer „the big one“ eines der Themen.

ORF.at/Simon Hadler
Die 25-jährige, hochschwangere Puja (r.) spricht über die Schrecken des Bebens
Das letzte große Beben mit einer Stärke von 8,5 auf der Richterskala hatte das Land 1934 erschüttert. In Nepal treffen zwei Platten aufeinander, krachen laufend zusammen und türmen sich zum Himalaya-Gebirge hoch. Geologen warnten seit Jahren, dass das nächste große Beben ansteht. Und die Journalisten des Landes schrieben Artikel um Artikel darüber, dass die Regierung der jungen Demokratie zu halbherzig auf die Umsetzung neuer Richtlinien zum Bebenschutz achtete.
Die unglaubliche Angst im Moment des Bebens
Plötzlich, erzählt Dixit im Gespräch mit ORF.at und Ö1 in einem belebten Cafehaus gleich neben den Büros der „Nepali Times“, plötzlich habe die Erde gebebt - und alle hätten vom Hügel aus auf die Stadt hinunter gestarrt, wo man gesehen habe, wie einige der höchsten Gebäude der Stadt einstürzten. Warum gerade diese? Nach hektischen Telefonaten mit den Angehörigen ging man gleich zur Analyse der aktuellen Lage über. Es fahren noch Autos, Flugzeuge heben ab: Das ganz große Beben kann es noch nicht gewesen sein.

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In der Nähe des Epizentrums blieb kein Stein auf dem anderen
9.000 Menschen kamen ums Leben, 570.000 Wohnungen bzw. Häuser wurden komplett zerstört, weitere 270.000 schwer beschädigt. Die Richterskala mag anzeigen, was sie will: Für die 25-jährige Puja war es das ganz große Beben, für sie und für all die anderen jungen Frauen, die in einem kleinen Dorf in den Bergen der Region Dhading in einer improvisierten Geburtsklinik ein Jahr später aufeinandertreffen. Puja ist gerade mit ihrem zweiten Kind schwanger, sie erzählt von der unglaublichen Angst, die alle gehabt hätten, als die Häuser einzustürzen begannen.
Künftig flexible Häuser aus Bambus
In ihrem Dorf steht kaum ein einziges Haus - und auch die Krankenstation mit der angeschlossenen Geburtsklinik ist zur Hälfte eingebrochen. Wochenlang sei die Schule geschlossen geblieben, sagt Puja. Und seit dem Beben müssten sie und ihre Familie in einer improvisierten Unterkunft leben. Hilfsorganisationen stellten als Übergangslösung Wellblechbögen zur Verfügung. Im Juni kommt der Monsun - bis dahin werden die Häuser längst nicht wiederhergestellt sein.

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Wie man Kindern hilft, mit dem Trauma umzugehen
Die Familien in dem weit abgelegenen Dorf ohne Strom- und Wasseranschluss helfen beim Wiederaufbau zusammen, aus jeweils sechs Haushalten ist je einer dabei, so lange, bis man zu sechst sechs neue Häuser aufgebaut hat. Die alten Mauern bestanden aus Natursteinen oder aus Ziegeln und hatten nicht standgehalten. Die neuen verfügen über ein Grundgerüst aus dickem, zusammengebundenem Bambus und sollen viel elastischer sein, wie einer der Arbeiter versichert. Und wenn das Haus doch zusammenbricht, stirbt zumindest niemand unter den Trümmern.
Die psychischen Folgen
Der Schreck und die Angst sitzen tief - das Beben hat nicht nur Gebäude zerstört und Todesopfer gefordert, sondern auch Wunden in der Psyche der Menschen hinterlassen. In einem anderen Dorf, einige Stunden weiter, hängt im Ordinationszimmer des Arztes Ram Binay Shah ein Plakat mit kleinen Bildern als Erklärung, wie man mit der Traumatisierung von Kindern umgehen soll: reden, umarmen, spielend das Erlebte verarbeiten, nicht die Geduld verlieren, wenn der Nachwuchs aggressiv wird.
Aggressionen haben auch unter Erwachsenen zugenommen. Gewalt gegen Frauen ist in Nepal schon längst als weit verbreitetes Problem bekannt, sagt Srijana Yogi, Projektkoordinatorin für Geburtenkontrolle und Geburtswesen von CARE Nepal. Das ist nun durch das Beben und seine Folgen wie Obdach- und Arbeitslosigkeit und damit einhergehenden verstärkten Alkoholkonsum noch schlimmer geworden. Wenn die wenigen Angestellten und vielen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen von Gesundheits- und Communityzentren auf einen Fall aufmerksam werden, versuchen sie, die betroffene Familie zu überreden, mit einem Mediator zu arbeiten. Im Notfall wird die Polizei gerufen.
Vier Stunden zum nächsten Krankenhaus
Gerade in den kleinen Dörfern ist die gesundheitliche Lage prekär. Kranke oder Verunglückte werden auf Holzbaren zum Arzt getragen. Wie lange es bei einem Unfall dauert, bis der Patient in einem richtigen Krankenhaus eintrifft? Vier Stunden - wenn die erdigen, dünnen Wege gerade passierbar sind für einen Geländewagen der Rettung, sagt der Arzt. Die 21-jährige Sabita - sie hat vor Kurzem ihr erstes Kind geboren - auf die Frage, wie weit entfernt von der nächsten Gesundheitsstation sie wohnt: „Gott sei Dank gleich dort drüben. Nur eine Stunde zu Fuß.“ Diese Stunde hat sie hochschwanger in steilem Gebiet zurückgelegt.

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Sabita und ihr Baby: Sie ist eine Stunde lang zu Fuß durch steiles Gebiet zur improvisierten Geburtsstation gegangen
Das Beben hat gezeigt, wie verletzlich das dünne Netz der sozialen Versorgung in den ländlichen Gebieten Nepals ist. Nun bauen es Regionalpolitiker mit der Hilfe von NGOs wie CARE aus. CARE betreibt die hier beschriebenen Gesundheitsstationen, leistet anderenorts Aufbauhilfe für die Bevölkerung - und hat den Lokalaugenschein von ORF.at organisiert sowie zum Teil finanziert. Bei CARE heißt es, das Geld werde dringender gebraucht denn je, aber gerade jetzt würden die Spenden immer weniger, weil seit dem Beben schon ein Jahr vergangen ist.
Ehemalige Bürgerkriegsparteien blockieren Hilfe
Mehr denn je wird das Geld deshalb benötigt, weil die längst beschlossenen und zugesagten Hilfsgelder der Regierung seit vielen Monaten auf sich warten lassen, klagt der regionale Gesundheitsbeauftragte von Dhading, Jiwan Kumar Malla. Aufgrund einer Pattsituation im Parlament und in der Regierungskoalition - es stehen einander die ehemaligen Bürgerkriegsparteien der Kommunisten und Demokraten gegenüber - erfolgten wichtige Postenbesetzungen viel zu lange nicht, Stillstand war die Folge.
Radio- und TV-Hinweise
Ö1 berichtet am Samstag um 12.00 Uhr, im „Journal-Panorama“ am 3. Mai um 18.25 Uhr und in „Moment - Leben heute“ am 10. Mai um 14.40 Uhr.
ORF2 sendet am Sonntag um 12.30 Uhr einen Beitrag in „Orientierung“.
Büßen müssen die Querelen um den Postenschacher die Menschen in den am meisten vom Beben betroffenen Gebieten. Seuchen drohen, und Unterernährung wird zusehends zum Problem. Auch Dixit, der Herausgeber der „Nepal Times“, kann nur den Kopf schütteln, wenn er über den Umgang der Regierung mit dem Beben spricht. Es fehle jedes Gefühl für Dringlichkeit. Der Bürgerkrieg ist erst seit zehn Jahren Geschichte. Nepal hat sich zwar eine überaus fortschrittliche Verfassung verpasst, aber die Praxis hinke noch hinterher.

APA/AFP/Prakash Mathema
Die Zerstörung in der Hauptstadt Kathmandu
Profitmaximierung um jeden Preis
„Wir haben gerade einmal angefangen, uns vorzubereiten, und hatten unglaublich viel Glück, dass das noch nicht das ganz große Beben war“, so Dixit. Denn dann wären alleine 200.000 Menschen in Kathmandu gestorben, schätzt Dixit. Ebenfalls Glück sei es, dass das Beben letztes Jahr auf einen Samstag fiel und deshalb die Schulen leer waren. Gemessen an der Zahl der eingestürzten Klassenzimmer wären unter der Woche 75.000 Kinder gestorben.
Investigative Journalisten haben übrigens eine Antwort auf die Frage gefunden, warum manche Hochhäuser einstürzten und andere nicht. Immer dort, wo der gleiche Klüngel an korrupten Beamten und gewissenlosen Baufirmen und Bauherren am Werk war, hielten die Mauern nicht stand. Gefälschte Baugenehmigungen - und wohl auch minderwertige Materialien und schleißige Verarbeitung - sollten den Profit maximieren. Korruption machte es möglich.
Alle sollen anpacken
Die Lehren aus dem Beben, sagt Dixit: Auf die Regierung könne man sich nicht verlassen, das Land befinde sich noch in einer Umbauphase hin zu einer im Alltag funktionierenden Demokratie. Und dennoch sollten eher heute als morgen Vorbereitungen für „the big one“ getroffen werden: „Das müssen wir selbst tun, Privatpersonen, Familien, Regionalgemeinschaften.“
Und es müsse öffentlicher Druck aufgebaut werden, damit die Regierung aus ihrem Tiefschlaf aufwache. Die Medien des Landes und zahlreiche NGOs wie CARE arbeiten daran. Für Puja, Sabita und alle anderen 26 Millionen Nepalesen darf man hoffen, dass ihnen die Zeit dabei nicht davonläuft.
Simon Hadler, ORF.at, aus Kathmandu
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