Themenüberblick

EU-Bürgerinitiative in der „Existenzkrise“

„Wie glaubwürdig ist eine EU, die ein Instrument für mehr direkte Demokratie einführt und sich dann nicht darum kümmert, ob es funktioniert oder nicht?“ Anlässlich des Tages der europäischen Bürgerinitiative (EBI) vergangene Woche fand der Vizepräsident der Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), Michael Smyth, harte Worte.

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Die 2007 im Vertrag von Lissabon beschlossene und 2012 in Kraft getretene EBI soll es EU-Bürgern ermöglichen, Vorschläge für Rechtsakte zu machen und an Entscheidungsprozessen teilzunehmen, indem sie sich unmittelbar an die Institutionen der Europäischen Union wenden. Was in der Theorie recht einfach klingt, ist ein sehr komplizierter Prozess: Eine Mio. Unterschriften in mindestens sieben EU-Ländern müssen innerhalb von zwölf Monaten gesammelt werden, bevor sich die Kommission mit einer Initiative befassen muss.

Von den 56 bis heute vorgelegten europäischen Bürgerinitiativen entsprachen 36 den formalen und inhaltlichen Anforderungen zur Zulassung - nur drei davon gelang es, mindestens eine Million Unterstützer zu finden. Eine Bilanz, die nicht gerade für die Effizienz der EBI spricht.

EU-Skepsis statt „neuer Schwung“

Die EBI werde „die EU neu beleben, die europäische Identität stärken und der politischen Arena Europas neuen Schwung verleihen“ - mit diesen blumigen Ausführungen kündigte der damalige EU-Vizekommissionspräsident und heutige Energiekommissar Maros Sefcovic 2012 die neue Möglichkeit der Mitbestimmung an. Mittlerweile ist die Kommission mit dem Tool der EU-Bürgerinitiative auch alles andere als zufrieden. Es würden Themen vorgebracht, die oft äußerst kontroversiell oder emotional aufgeladen nur für eine kleine Minderheit von EU-Bürgern interessant seien. Dadurch werde die EU-Skepsis nur noch steigen, hieß es im Dezember in einer Kommissionssitzung. Angekündigte Änderungsvorschläge wurden bisher aber immer wieder verschoben.

Aktuelle EU-Bürgerinitiativen

Derzeit sind vier EU-Bürgerinitiativen am Laufen: „Vater, Mutter & Kind - Europäische Bürgerinitiative zum Schutz von Ehe und Familie“, „Wake up Europe! Jetzt handeln zur Wahrung der Demokratie in Europa“, „Stop plastic in the sea“ und „Fairer Transport in Europa – Gleichbehandlung aller Verkehrsbeschäftigten“.

„Die EU-Skepsis wird zweifellos auch dadurch befeuert, dass diejenigen, die sich in gutem Glauben mit einer Bürgerinitiative einbringen wollen, nie ein relevantes Ergebnis sehen,“ sagt nun EU-Ombudsfrau Emiliy O’Reilly. „Man könnte es die Existenzkrise der EBI nennen.“

Dass das Verfahren für die Bürgerinitiativen vereinfacht beziehungsweise überarbeitet werden muss, fordert jedoch nicht nur die Ombudsfrau, die schon vor einem Jahr ihre Vorschläge dafür an die Kommission übermittelte. „Was die Bürger und ich nun wissen wollen ist, was die Kommission wirklich über die EU-Bürgerinitiativen denkt,“ sagt sie.

Parlament fordert Überarbeitung des EBI-Verfahrens

Nicht durch die Bank glücklich ist man auch im Europäischen Parlament (EP) über die derzeitige Form der EBI. Eine im Vorjahr verabschiedete Resolution an die Kommission schlägt vor, dass die Organisatoren solcher Petitionen künftig Anspruch auf rechtliche und technische Hilfe für ihre Initiative haben und finanzielle Unterstützung aus dem EU-Haushalt beantragen können.

Damit, erklärt die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Ulrike Lunacek (Grüne), gegenüber ORF.at, wolle man der Bürgerinitiative den Rücken stärken. „Die Bürgerinitiative muss einfacher in der Organisation und stärker in ihrer politischen Wirkung werden. Das ist unbedingt nötig, ist sie doch das wichtigste Instrument für direkte Bürgerbeteiligung in der EU zwischen den Wahlen.“

Grüne für mehr Änderungen

Ginge es nach den Grünen, wäre die Resolution des Parlaments jedoch viel weiter gegangen: „Unser Vorschlag, der die EU-Kommission stärker in die Pflicht genommen hätte, innerhalb von zwölf Monaten mit einem Gesetzesvorschlag auf eine solche Bürgerinitiative zu reagieren, wurde abgelehnt. Offenbar fürchten sich einige Abgeordnete vor den Vorschlägen aus der Bevölkerung,“ kritisiert Lunacek. Abgelehnt worden sei auch der Vorschlag, dass sich das Parlament dazu verpflichten sollte, selbst aktiv zu werden, wenn die EU-Kommission ihrer Aufgabe nicht nachkommt.

Der EVP-Abgeordnete Heinz K. Becker ist zwar der Ansicht, dass man die EBI verbessern müsse, wenn sie nicht funktioniert, aber: „Direkte Demokratie ist nur eine Ergänzung zur parlamentarischen Demokratie. Die europäische Bürgerinitiative muss ein demokratisches Mittel der Bürger- und Zivilgesellschaft sein, sie darf nicht von Regierungsparteien oder mächtigen Lobbygruppen für taktische Spielchen zweckentfremdet werden.“

Auch SPÖ-EU-Delegationsleiterin Evelyn Regner wünscht sich, „dass die Bürgerinnen und Bürger noch einfacher ihre Anliegen vorbringen können“. Das stärke nicht nur die Demokratie in Europa, sondern auch die europäische Identität, so die Abgeordnete gegenüber ORF.at. Die Einführung der EBI vor vier Jahren sei dennoch „ein wichtiger und notwendiger Schritt für mehr direkte Demokratie in Europa. Erfolgreich wurde auf Druck der Bürgerinnen und Bürger etwa die geplante Privatisierung der Wasserversorgung zu Fall gebracht.“

„Stop TTIP“ klagt gegen Ablehnung

Die Debatte über die EU-Bürgerinitiative beschäftigt mittlerweile eine Vielzahl an EU-Institutionen - selbst den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dort wird darüber entschieden werden, ob die EU-Kommission die Bürgerinitiative „Stop TTIP“ 2014 zu Recht für unzulässig erklärt hat. Als Begründung gab die Kommission damals an, dass eine EBI nicht negativ formuliert und nicht auf laufende Vertragsverhandlungen gerichtet sein dürfe.

Protest in Brüssel gegen das TTIP-Abkommen

Reuters/Francois Lenoir

Mehr als drei Mio. Menschen haben europaweit gegen das geplante Freihandelsabkommen TTIP unterschrieben

Die Initiatoren starteten unabhängig davon eine selbst organisierte Bürgerinitiative. „Stop TTIP“ gelang es, in einem Jahr 3,26 Millionen Unterstützungserklärungen zu sammeln - und wäre, wenn sie offiziell anerkannt wäre, damit bis dato die erfolgreichste EBI.

Sophia Felbermair, ORF.at, aus Brüssel

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