Legendenumwobenes Stück
Dass das Theaterstück „Sir Thomas More“ bis heute in seiner britischen Heimat und noch mehr außerhalb des englischen Sprachraums halb vergessen dahinschlummert, mag damit zu tun haben, dass sich niemand mit einem „falschen Shakespeare“ blamieren will. Denn noch immer ist unklar, wie viel Shakespeare in dem rätselhaften Stück steckt. Immer klarer wurde allerdings über die Jahre: Wenig ist es nicht.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Die besten Teile des klassischen Fünfakters sind sogar so zweifellos von Shakespeare wie sonst gar nichts: Seine Überarbeitungen, eingefügten Szenen und drei Seiten an eingefügten Monologen sind das einzige handschriftliche Zeugnis des Dichters, das abgesehen von ein paar Notizen und Unterschriften in Registern und unter Verträgen erhalten ist. Das fiel allerdings erst 1871 dem britischen Hobbyliteraturwissenschaftler Richard Simpson auf, der damals für diese These Spott und Hohn erntete.
Shakespeare sollte es richten
Bis zu Simpsons Vermutung, dass Shakespeare bei „Sir Thomas More“ seine Finger im Spiel hatte, galt das Drama als eines von vielen elisabethanischen Dramen ähnlichen Zuschnitts: Die führenden Köpfe einer Theatergilde - hier der Kompanie Lord Strange’s Men - ließen sich von Auftragsschreibern oder Mitgliedern ein Stück zurechtschustern, das sie dann selbst in ihrer Gilde aufführten. Als Hauptautoren gelten so nach wie vor die zeitgenössischen Autoren Anthony Munday und Henry Chettle.
Die gängigste unter den vielen Theorien zu dem Stück lautet heute: Die eigentlichen Autoren waren mit der ausufernden Dramaturgie des ungelenken Stücks am Ende selbst überfordert und baten einen um Überarbeitung, von dem sie wussten, dass er so etwas konnte: Shakespeare. Literaturwissenschaftler sind sich inzwischen großteils einig, dass er de facto der Letztbearbeiter des Stückes war. Nach ihm fuhrwerkte offenbar nur noch an einer Szene sein Zeitgenosse Thomas Dekker herum.
Einiges „riecht“ sehr nach Shakespeare
Zum Spekulieren verführt allerdings die Tatsache, dass der Großteil des Manuskripts von einem professionellen Kopisten stammt, der offenbar seinerseits wieder die handschriftlichen Beiträge einer unbekannten Zahl von Autoren in eine ordentliche Reinschrift bringen sollte. Deshalb gibt es auch die Überlegung, Shakespeare könnte das Stück von Anfang an gemeinsam mit Chettle und Munday geschrieben und es sich am Höhepunkt seiner schriftstellerischen Karriere selbst wieder vorgenommen haben.
Die These hat einiges für sich: Vermutlich unternahm der junge Shakespeare tatsächlich bei den „Lord Strange’s Men“ seine ersten literarischen Gehversuche. Einiges am Stück „riecht“ zudem sehr nach Shakespeare: Wie bei „Hamlet“ gibt es etwa im vierten Akt ein „Stück im Stück“, in dem Motive und Essenz des eigentlichen Stücks gespiegelt werden. Ebenfalls typisch für den Dichter ist das Heranziehen eines historischen Stoffs, um in Wahrheit eine Geschichte über die Gegenwart zu erzählen.
Politische Gratwanderung
Das Stück handelt von Thomas Morus, dem streitbaren Vertrauten und späteren Widerpart von König Heinrich VIII., und dem damals etwa 70 Jahre zurückliegenden „Evil May Day“, bei dem die Londoner über die damaligen Einwanderer aus der Lombardei herfielen. Unschwer zu erkennen ist, dass im Stück allerdings die 1590 aktuellen Übergriffe auf Hugenotten gemeint waren, die vor religiöser Verfolgung aus Frankreich geflohen waren.
Ohnehin war ein Stück über Thomas More eine ziemliche politische Gratwanderung. Königin war damals Heinrichs Tochter Elisabeth. Mores Hinrichtung war unmittelbar mit ihrer eigenen Existenz verknüpft: Heinrich hätte ihre Mutter Anne Boleyn nicht heiraten können, hätte er nicht davor die anglikanische Kirche gegründet. More hatte sich geweigert, die neue Kirche anzuerkennen und wurde deshalb wegen Hochverrats hingerichtet.
Ein Monster von einem Drama
Das Drama versucht, den heikelsten Punkten aus dem Weg zu gehen, indem es nie genau auf die Gründe für den Konflikt zwischen Heinrich und Thomas More eingeht. Ohnehin interessierten sich die Autoren vor allem für die Persönlichkeit Mores, den sie - laut zeitgenössischen Schilderungen zutreffend - als selbstironischen, sarkastischen, prinzipientreuen Menschen des Typs „raue Schale, weicher Kern“ schildern.
Es gab aber auch ganz praktische Gründe, warum das Drama erst in den 1950er Jahren ein paarmal aufgeführt wurde und danach bis auf ein paar wenige Aufführungen in der Versenkung verschwand: Die gewaltige Anzahl von 59 verschiedenen Sprechrollen bei zugleich allein über 800 Zeilen Text für die Rolle des Thomas More. Als Shakespeare den Text überarbeitete, hätte er nachweislich bereits die Mittel gehabt, um das Werk auf die Bühne bringen zu können. Es scheiterte nach der heute überwiegenden Ansicht an der Angst vor Unruhen wegen des hochpolitischen Inhalts.
Lukas Zimmer, ORF.at
Links: