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Pannenliste wird immer länger

Dass ausgerechnet Brüssel Ziel der jüngsten Terroranschläge geworden ist, sei kein Wunder, analysieren internationale Medien die folgenschweren Attentate vom 22. März. Die Zuschreibungen, die sich Belgien im Moment tagtäglich gefallen lassen muss, reichen vom „dysfunktionalen“ „Failed State“ bis zum „Dschihadistenparadies“. Pannenserien bei den Ermittlungen und offizielle Reaktionen der Regierung machen die Sache nicht besser.

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Das Bild vom Land, in dem Terroristen munter ein- und ausspazieren und ihrem Tagwerk nachgehen können, während sie ganze Stadtteile quasi okkupiert haben (Stichwort Molenbeek) hält sich recht hartnäckig schon seit den Anschlägen in Paris, als plötzlich alle Spuren nach Belgien führten. Die Selbstmordattentate auf dem Flughafen und in einer U-Bahn-Station in Brüssel vorige Woche sind, so urteilen reihenweise Experten, „schockierend, aber nicht überraschend“.

Genauso wenig überraschend und trotzdem auffällig ist die Serie an Reaktionen und Ermittlungsfehlern die in den vergangenen Tagen passierten und öffentlich wurden. Informationen, die von Geheimdiensten und Polizeieinheiten aus anderen Ländern gekommen sein sollen, seien nicht weitergegeben worden, sämtliche Attentäter und Verdächtige seien den (angesichts der zersplitterten Struktur der Institutionen) belgischen Behörden bekannt gewesen, Verdächtige wurden als Täter präsentiert und später wieder freigelassen, zahlreiche Festnahmen und Hausdurchsuchungen erwiesen sich als Fehlschläge: Die Liste der Pannen lässt sich fast jeden Tag erweitern.

„‚Belgien-Bashing‘ ist unbegründet“

Trotzdem hält man die Kritik - „Belgien-Bashing“ genannt - in Belgien für „übertrieben“ und „unfair“, wie immer wieder in hiesigen Medien, etwa der Zeitung „Le Soir“, zu lesen ist. Eine ebenfalls verteidigende Analyse des EU-Nachrichtenblogs Politico.eu kommt zu dem Schluss, dass die Kritiker drei wesentliche Punkte übersehen: Belgien sei nicht das erste und nicht das einzige Ziel der islamistischen Terroristen gewesen, auch andere Geheimdienste hätten beim Informationsaustausch versagt, und die Anschläge im März seien ein Angriff gegen ganz Europa und die westlichen Werte gewesen. „‚Belgien-Bashing‘ ist unbegründet und schwächt nur unser kollektives Verantwortungsgefühl“, hieß es.

Als Pluspunkt lobten belgische Medien anfangs auch die öffentliche Linie nach den Anschlägen, die wesentlich deeskalierender gewesen sei als jene Frankreichs im November 2015. Statt Kriegsmetaphern zu bemühen und von permanenten Ausnahmezuständen zu sprechen, war von einer raschen Rückkehr zur Normalität die Rede, und diese wurde auch so weit wie möglich umgesetzt. „Normalität“, das heißt freilich schon seit Monaten Sicherheitswarnstufe drei, also immer noch eine „ernste Bedrohung“.

Das „morsche Herz“ Europas

Die Tage vergehen, Ermittlungsfortschritte bleiben aus - und die Kritik, auch in der belgischen Presse, wächst. Die Regierung „tänzelt herum vor den Augen der Weltpresse. Die stempelt Belgien ab als das ‚morsche Herz‘ Europas, das jeden in Gefahr bringt, weil Polizei und Geheimdienste den enormen Herausforderungen nicht gewachsen seien,“ schreibt die Brüsseler Zeitung „De Standaard“. „Die Zeiten sind nun vorbei, in denen wir solche Kritik einfach wegwischen konnten als wilde Übertreibung von Stammtisch-Analytikern, die unsere komplizierten Verhältnisse nicht verstehen. Seit Jahrzehnten doktern wir an unserem Staatssystem herum. Wir sind von einer Krise in die nächste geraten. Dabei haben wir einen Staat gestaltet, der ständig weniger Macht bekam.“

Auch die französischsprachige „Le Soir“ schreibt vom „Scheitern bei der Staatsorganisation“. Fazit: „Es muss sich etwas ändern in diesem Land.“ Immer wieder ist von einem „dysfonctionnement“ (wörtlich: Funktionsstörung) im Behördenapparat die Rede.

Schuldzuweisungen statt Konsequenzen

Wo man anderswo mit Rücktritten oder zumindest damit rechnen könnte, dass jemand die Verantwortung auf sich nimmt, wird in Belgien unterdessen primär Schuld weg- oder jemand anderem zugewiesen. Zwar hatten Innenminister Jan Jambon und Justizminister Koen Geens schon indirekt Fehler der Sicherheitsbehörden eingeräumt - die Informationen von ausländischen Ermittlern seien wohl weitergegeben worden, aber nicht schnell genug. Ihr Rücktrittsangebot, das Premier Michel postwendend ablehnte, machte aber eher den Eindruck eines Pro-forma-Aktes.

Wenige Hemmungen haben die belgischen Politiker hingegen, wenn es darum geht, Schuld oder Verantwortung bei anderen zu suchen. Dass Hinweise der Türkei über den Attentäter Ibrahim El Bakraoui verschlafen wurden, ist für Jambon ein Versäumnis eines einzelnen Verbindungsoffiziers, der damals in Istanbul tätig war. Dass die Metro nicht unmittelbar nach dem Flughafenattentat gesperrt wurde, sieht er als Versagen der Brüsseler Stadtregierung.

Lascher Umgang mit der Unschuldsvermutung

Der Brüsseler Bürgermeister Yvan Mayeur hingegen kritisiert dafür laufend offen die Ermittlungsarbeiten der Polizeibehörden. Man hätte zum Beispiel Faycal C., jenen Mann, der irrtümlich als „Mann mit dem Hut“ verhaftet worden war, nicht freilassen dürfen, kritisierte er diese Woche. C. konnte zwar ein offenbar stichhaltiges Alibi vorlegen, für Mayeur macht ihn das aber nicht unverdächtig. Einen peinlichen Ausrutscher in diesem Zusammenhang leistete sich auch der belgische Integrationsstaatssekretär Theo Francken, in dem er C. laut dem belgischen TV-Sender RTBF kurz nach der Verhaftung auf Twitter als „abscheulichen Islamisten“ titulierte.

Auf wessen Konto gehen die Hooligan-Randale?

Zu einem regelrechten Schlagabtausch und einem plastischen Beispiel für die Zerrissenheit Belgiens zwischen dem französischsprachigen Süden und dem flämischen Norden kam es nach den Hooligan-Ausschreitungen beim Place de la Bourse im Brüsseler Zentrum. Schuld seien, neben Jambon, auch die Stadtregierung und die Polizei von Vilvoorde, so der Sozialist Mayeur. Von dort war der Großteil der Aufwiegler nach Brüssel gekommen. Mayeur beschwerte sich darüber, dass die Polizei Vilvoordes die Hooligans nicht aufgehalten habe.

Der ebenfalls sozialistische flämische Bürgermeister von Vilvoorde, Hans Bonte, erklärte dafür wieder, er habe den Mob absichtlich passieren lassen, um „zu viel Frust“ zu vermeiden. „In Abstimmung mit der Polizei und dem Sicherheitsdienst Securail haben wir entschieden, sie den Zug nehmen zu lassen.“ Das sei unter Aufsicht der Vilvoorder Polizei und in Abstimmung mit den Brüsseler Behörden geschehen.

Zwar verurteilten die flämischen Christdemokraten, Liberalen, Grünen und Sozialisten die Vorfälle auf dem Börsenplatz in einer Stellungnahme. Der Antwerpener Bürgermeister Bart De Wever, der Vorsitzende der flämischen Nationalistenpartei N-VA von Innenminister Jambon, verzichtete aber ausdrücklich auf eine Distanzierung.

Sophia Felbermair, ORF.at, aus Brüssel

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