Dolmetscher „aus Berufung“
Wenn sich die EU-Staats- und Regierungschefs beim Gipfel zum Abendessen treffen, sind sie ganz unter sich. Fast: Denn via Videoschaltung sind die Dolmetscher dabei und sorgen dafür, dass auch im intimen Kreis jeder mit jedem sprechen kann. Einer von ihnen ist Gerald Dichtl, seit über 20 Jahren Dolmetscher in Brüssel. Für ihn ist es mehr eine „Berufung als ein Beruf“, sagt er im Gespräch mit ORF.at.
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Am Beginn seiner Karriere übersetzte er die Sitzungen und Besprechungen aus vier Sprachen ins Deutsche: Französisch, Englisch, Italienisch und Niederländisch. Mittlerweile sind noch Spanisch, Portugiesisch und Griechisch dazugekommen. So ungefähr drei bis sechs Jahre dauere es, eine Sprache so zu erlernen, dass man damit in der Dolmetschkabine arbeiten kann, so Dichtl - „je nach Sprache, wenn man schon Italienisch und Französisch kann, lernt man Spanisch schnell. Griechisch war ein komplexeres Unterfangen.“

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Gerald Dichtl dolmetscht seit 21 Jahren, noch immer mit Begeisterung
Der Dolmetscher und seine 554 Kollegen dolmetschen nicht nur für die EU-Kommission, sie werden auch quasi verliehen - an den Europäischen Rat, an Agenturen wie Europol, die beratenden Ausschüsse und an die Europäische Investitionsbank in Luxemburg.
Live bei der Euro-Rettung 2015
Dichtl arbeitet mittlerweile zu 99 Prozent bei den Ministerratstreffen oder EU-Gipfeln. Das habe sich so ergeben, einerseits wegen seiner Sprachkombinationen, andererseits aber auch wegen seiner Interessengebiete. So kam er zum Beispiel - spezialisiert auf Griechenland und Finanzthemen - bei den Euro-Gruppe-Treffen und den Gipfeln der EU-Staats- und Regierungschefs zur Griechenland-Krise im Vorjahr viel zum Einsatz.
In solchen Situationen sind Dichtl und seine Kollegen direkt dort, wo die heiklen Entscheidungen gefällt werden - bei Diskussionen, die unter die höchste Geheimhaltungsstufe fallen. Selbst dann, wenn sich die Staatschefs zum Arbeitsdinner zurückziehen, hören und sprechen die Dolmetscher mit. „Wir folgen den Gesprächen dann wie in einer Art Liveübertragung aus einem anderen Raum, ein paar Stockwerke tiefer - mit sehr guten Bildschirmen und Soundanlagen“, so Dichtl. Remote-Dolmetschen nennt man diese Art der Simultanübersetzung.

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Zwei bis drei Kollegen sitzen normalerweise in jeder der 24 kleinen Kabinen
„Es ist schon sehr spannend, wenn man da im Hintergrund unmittelbar partizipieren kann.“ Dass manchmal Informationen nach außen dringen, liege nicht an der Indiskretion von Dolmetschern, ist sich Dichtl sicher: „Das kommt dann von den guten Kontakten der Journalisten zu den Delegationen.“
Zu gute Umgangsformen für fliegende Fetzen
Nicht immer verließen die Staats- und Regierungschefs die Gipfelräumlichkeiten in den letzten Monaten mit entspannten Gesichtern. Dass so richtig die Fetzen fliegen, komme trotzdem nicht vor, sagt Dichtl: „Das läuft sehr professionell ab, da gibt es eigentlich immer einen sehr guten Umgangston.“
Das ziemliche Gegenteil des Remote-Dolmetschens ist das Simultanübersetzen von Zweiergesprächen - da „sitzen dann zwei Minister mit zwei Dolmetschern“. Mittlerweile komme das aber nicht mehr so oft vor, so Dichtl - die Tagesordnungen seien dichter als früher, und Sitzungen seien viel besser vorbereitet. Auch zu übersetzende Privatgespräche zwischen den Politikern kämen kaum vor, das, sagt Dichtl, sei eher bei bilateralen Staatsbesuchen der Fall. „Wenn sich Merkel und Hollande in Brüssel treffen, dann ist das die Arbeitsebene, da ist keine Zeit für Gespräche nebenher.“
Fachkundiges Publikum mit Anspruch auf Perfektion
Wie sich Dichtl auf seinen Tag vorbereitet, hängt von der Agenda ab - je komplexer das Thema, desto mehr Aufwand - „sehr komplexe Themen aus den Bereichen Steuerpolitik oder Finanzdienstleistungen muss man schon sehr gut vorbereiten. Man darf ja auch nicht vergessen, dass das fachkundige Publikum einen Anspruch darauf hat, dass sie das alles perfekt, vollständig und inhaltlich richtig geliefert bekommen.“
Kommt es trotzdem manchmal zu Situationen, in denen ein Dolmetscher mitten in der Übersetzung hängenbleibt und nach einem Wort sucht? Schon, meint Dichtl, aber das sei im Normalfall auch kein Drama: „Man sitzt ja nicht alleine in der Kabine. Wenn man einen Ausdruck nicht kennt, dann kennt ihn vielleicht ein Kollege. Manchmal muss man aber auch schnell nachschlagen - es gibt Datenbanken, Google und Wikipedia.“
Was heißt Baumkurre auf Griechisch?
Bis man das gesuchte Wort gefunden habe, müsse man Zeit schinden - „die Formulierung so wiedergeben, dass das fehlende Wort erst später eingebaut werden kann“. Das passiere vor allem bei sehr spezialisierten Themen öfter - im Bereich Fischerei etwa, „da geht es ja nicht nur um Fischarten, sondern auch um Fanggeräte. Und ob ich jetzt zum Beispiel das Wort ,Baumkurre‘ in allen meinen sieben Sprachen sofort erkennen würde ...“, sagt Dichtl lachend. „Im schlimmsten Fall wiederholt man den Begriff auf Englisch und reicht ihn später auf Deutsch nach.“

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Auch im Pressesaal in der EU-Kommission wird täglich in 24 Sprachen gedolmetscht
Generell werde in der EU vermehrt Englisch gesprochen - Globish, sagt Dichtl, Eurospeak nennen es andere. „Wir als Sprachler bedauern das, weil man mit Globish den Möglichkeiten der Kommunikation ja gar nicht gerecht wird.“ Es gehe nicht immer, dass jede Konferenz mit einem vollen Sprachregime (so nennt man das Sprachangebot) begleitet werde. Das bedeutet aber auch, dass manche in ihrer Muttersprache reden können und andere nicht.
„Schlagkräftigere Positionen in Muttersprache“
Nicht jeder Delegierte schaffe es auch, sich auf Englisch so gut auszudrücken, das schlage sich auch auf die Debatte nieder. „Ein Franzose, der dann in seiner Muttersprache spricht, kann wunderbar seine Position darlegen, in Nuancen, denen auch wir Dolmetscher wiederum in unserer Muttersprache gerecht werden können. Aber wenn jemand nicht die besten Englischkenntnisse hat, der traut sich dann ja auch gar nicht, seine Position zu beziehen. Sich in seiner Muttersprache auszudrücken heißt, schlagkräftig Position beziehen zu können.“
Gerade bei heiklen oder sehr technischen Themen - Asyl, Finanz, Terror - werde oft das volle Sprachregime, also alle 24 Sprachen, gedolmetscht. „Die Mitgliedsstaaten sollen ja nicht die mit den besten Sprachkenntnissen nach Brüssel schicken, sondern die besten Experten,“ betont der Dolmetscher. „In 24 Sprachen über hochkomplexe Sachverhalte diskutieren - das geht!“
Nicht immer sind 24 Sprachen gefragt
In anderen Bereichen sei es wieder gar nicht notwendig, mehr als Englisch, Deutsch und Französisch anzubieten, wenn man etwa internationale Finanzexperten an einen Tisch hole. Die hätten oft in England oder Paris studiert, arbeiteten in Basel oder Frankfurt in internationalen Konzernen oder Banken, sowieso auf Englisch - „die kennen womöglich die Terminologie nicht in ihrer eigenen Muttersprache“.
Anders zum Beispiel die Agrarexperten. „Wer normalerweise in einem Ministerium sitzt und kaum was mit anderen Sprachen zu tun hat, der soll ja auch an der Debatte teilnehmen können. Das tut einem manchmal weh, wenn man sieht, dass da jemand dabei ist, der gerne mitdebattieren würde, aber sich wegen der Sprache zurückhält.“
Das supranationale Kommissionsenglisch
Anders als Experten und Vertreter der Mitgliedsländer ist in der EU-Kommission Englisch so etwas wie die Alltagssprache. „Aus zwei Gründen, weil man es gewohnt ist und mit den Themen vertraut ist, und weil man sich doch von den Mitgliedsstaaten abheben will als supranationale Institution.“
Wer aber annimmt, dass Englisch eine der besonders leicht zu dolmetschenden Sprachen ist, irrt - im Gegenteil, findet der siebensprachige Dichtl: „Man hat einen sehr großen Konkurrenten in der Person des Zuhörers, der ja selbst auch meistens Englisch kann. Das heißt, man muss ihm da zur Seite stehen, wo er nicht mehr weiterkommt - wo es dann sehr technisch wird. Oder wenn ein Ire mit seinem lokalem Akzent sehr schnell etwas sagt. Oder wenn ein Michtmuttersprachler Englisch spricht, das kaum verständlich ist.“
„I waaß, wos i sogn muaß“
Einen wirklichen „Angstgegner“ habe er nicht, sagt Dichtl. Zumindest nicht in Form einer Sprache oder einer konkreten Person. Augenscheinlich keine große Freude hat er aber mit sehr schnell vorgelesenen Reden: „Frei gesprochen ist nie das Problem, gelesen schon eher.“ Und es werde immer mehr gelesen, vor allem bei den Ministerratssitzungen, wo kaum noch jemand ohne vorbereitete Positionen anreist. Früher hatten die Minister ihre Spielräume. „Im Agrarministerrat, da hat zum Beispiel niemand gelesen. Euer Kommissar damals, Franz Fischler, hat einmal gesagt: ‚I brauch kane Sprechzettl, I waaß, wos i sogn muaß.‘“
Dass Dichtl voll in seinem Job aufgeht, ist kaum zu übersehen. Er könne sich durchaus vorstellen, noch eine weitere Sprache zu lernen. Ein Wechsel in eine andere Abteilung der Kommission sei an sich durchaus auch möglich - daran denkt er aber gar nicht: „Ich bin mir eigentlich schon sicher, dass ich bis zum Ruhestand hier in der Kabine durchhalten werde.“ Ein erfolgreicher Tag sei es für ihn, wenn einer seine Zuhörer am Ende des Tages feststelle, er habe gar nicht mitbekommen, dass da heute so viele Sprachen gesprochen worden seien. „Dann ist die Arbeit gelungen.“
Sophia Felbermair, ORF.at, aus Brüssel
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