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„Kämpfen für freie Presse“

Die türkische Polizei ist am Samstag erneut mit Gewalt gegen Unterstützer der regierungskritischen Zeitung „Zaman“ vorgegangen. Mit Tränengas und Plastikgeschoßen versuchte sie, rund 2.000 Demonstranten vor dem Verlagsgebäude zu vertreiben.

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Bereits in der Nacht auf Samstag hatte die Polizei Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt und war gewaltsam in das Gebäude eingedrungen. Die Behörden stellten die Zeitung unter Kontrolle des Staates und ließen Anhänger des regierungskritischen Geistlichen Fethullah Gülen festnehmen. Präsident Recep Tayyip Erdogan beschuldigt ihn, ein Unterstützernetz in Justiz, Polizei und Medien aufzubauen und damit den Sturz der Regierung zu betreiben. Gülen lebt seit Jahren in den USA.

„Werden nicht schweigen“

Kurz vor Mitternacht hatte die Polizei die Redaktion der Tageszeitung in Istanbul gestürmt. Dabei ging sie mit Wasserwerfern und Tränengas gegen mehrere hundert Anhänger der Zeitung vor, die sich vor dem Redaktionsgebäude versammelt hatten. Die Demonstranten hielten Plakate mit der Aufschrift „Wir kämpfen für eine freie Presse“ und „Wir werden nicht schweigen“ in die Höhe.

Proteste in der Türkei

APA/AFP/Ozan Kose

Die Polizei setzte Tränengas und Gummigeschoße ein

Die Polizei verschaffte sich gewaltsam Zugang zu dem Gebäude, bevor Dutzende Polizisten in die Redaktion eindrangen. Laut der Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi übernahmen anschließend die vom Gericht ernannten Verwalter - die Anwälte Tahsin Kaplan und Methin Ilhan sowie der Autor Sezai Sengonul - die Leitung von „Zaman“, die mit 650.000 Exemplaren die auflagenstärkste Tageszeitung des Landes ist.

Identitätskontrollen am Eingang

Zum Arbeitsbeginn am Samstag in der Früh bildeten sich lange Schlangen vor der Redaktion, weil die Polizei die Identität der Mitarbeiter genau kontrollierte. Am Nachmittag ging die Polizei erneut mit Tränengas, Wasserwerfern und auch Plastikgeschoßen gegen rund 2.000 Demonstranten vor, die vor dem Gebäude aus Solidarität mit der Zeitung ausgeharrt hatten.

„Die türkische Presse hat einen ihrer schwärzesten Tage ihrer Geschichte erlebt“, schrieb „Zaman“ in der Samstag-Ausgabe, die noch gedruckt werden konnte, obwohl die Zeitung bereits unter Zwangsverwaltung stand. „Die auflagenstärkste Zeitung der Türkei ist beschlagnahmt worden - trotz der Zusicherung von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, dass ‚die freie Presse unsere Rote Linie‘ sei.“

Davutoglu verteidigte am Samstag das Vorgehen gegen die Zeitung als unabhängige Entscheidung der Justiz. Die gegen die regierungskritische Zeitung ergriffenen Maßnahmen seien „sicher keine politischen, sondern rechtliche Vorgänge“. Die Türkei sei ein Rechtsstaat, so Davutoglu. Es komme daher „nicht infrage für mich oder irgendeinen meiner Kollegen, sich in diesen Prozess einzumischen“.

Scharfe Kritik von Hahn

EU-Politiker äußerten scharfe Kritik an dem Vorgehen gegen die Zeitung. Als Beitrittskandidat müsse die Türkei auch die Pressefreiheit respektieren, erklärte der Erweiterungskommissar Johannes Hahn am Samstag. Das Vorgehen der Behörden gefährde auch „die Fortschritte der Türkei auf weiteren Gebieten“.

Polizisten vor dem Zeitungsgebäude

APA/AP

Bereits in der Nacht war die Lage vor der Redaktion eskaliert

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz bezeichnete das Vorgehen gegen „Zaman“ auf Twitter als „weiteren Schlag gegen die Pressefreiheit in der Türkei“ und kündigte an, die Frage beim EU-Türkei-Gipfel am Montag zur Sprache zu bringen. „Die Türkei ist dabei, eine historische Chance der Annäherung an die Europäische Union zu verspielen“, warnte Schulz im „Tagesspiegel am Sonntag“.

„Beunruhigende Serie“

Auch die US-Regierung sprach von einer „beunruhigenden Serie“ des Vorgehens gegen Medien und Regierungskritiker in der Türkei und erinnerte daran, dass Meinungs- und Pressefreiheit in der Verfassung festgeschrieben sind. Die Behörden müssten dafür sorgen, dass ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassung stünden, mahnte Außenamtssprecher John Kirby. Amnesty International und andere Menschenrechtsgruppen kritisierten die Übernahme aufs Schärfste. Es handle sich um „den neuesten Versuch des türkischen Präsidenten und der Regierung, kritische Medien zum Schweigen zu bringen“, hieß es bei Human Rights Watch.

Appell an EU-Politiker

Die Organisation Reporter ohne Grenzen forderte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel auf, beim EU-Türkei-Gipfel am Montag in Brüssel klare Worte zur Pressefreiheit zu finden. „Von diesem Gipfel darf nicht das verheerende Signal ausgehen, dass die EU über jede Menschenrechtsverletzung hinwegsieht, wenn es um Zugeständnisse in der Flüchtlingspolitik geht“, heißt es in einer Erklärung. Das illegale und eindeutig politisch motivierte Vorgehen zeige, dass Präsident Erdogan keine Schamgrenze mehr bei der Unterdrückung jeder Kritik an seiner Regierung kenne.

„Beschämend für EU“

In den vergangenen Monaten waren die türkischen Behörden bereits gegen andere Medien aus dem Umfeld der Gülen-Bewegung vorgegangen. Laut Anadolu Ajansi wurde „Zaman“ unter Zwangsverwaltung gestellt, weil sie eine „Terrororganisation“ unterstützt habe. Das Vorgehen erfolgte, während EU-Ratspräsident Donald Tusk in Istanbul mit Erdogan über die Flüchtlingskrise und den EU-Türkei-Gipfel sprach.

Bilal Baltaci, Redakteur bei der Österreich-Ausgabe von „Zaman“, sagte gegenüber der APA: „Es ist beschämend für die EU, wenn in Ankara Verhandlungen geführt werden und gleichzeitig in Istanbul von der Polizei eine Redaktion gestürmt wird und niemand ein einziges Wort darüber verliert, weil man auf die Unterstützung von Erdogan angewiesen ist.“

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