Der Mann als „Normalfall“
Bei einer Entscheidung zwischen dem generischen Maskulinum und dem Femininum wäre Anatol Stefanowitsch für das Femininum - denn: „Wir Männer fühlen uns sowieso ständig und überall mitgemeint.“ Im Interview mit ORF.at spricht der Sprachwissenschaftler, der an der Freien Universität Berlin unterrichtet und mit Kolleginnen das Linguistikblog „Sprachlog“ betreibt, über die deutsche Sprache und deren „Problem mit männlicher Dominanz“.
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ORF.at: Was kann geschlechtergerechte Sprache bewirken? Warum ist sie wichtig?
Stefanowitsch: Wir müssen uns klarmachen, dass Frauen in der deutschen Sprache seit vielen hundert Jahren systematisch versteckt werden - vor allem durch das sogenannte generische Maskulinum, also die Verwendung von männlichen Formen als angeblich geschlechtsneutrale Formulierung. Aus inzwischen Dutzenden von Experimenten wissen wir, dass es ein solches generisches Maskulinum auf psychologischer Ebene nicht gibt - maskuline Formen werden in der Sprachverarbeitung zunächst immer männlich verstanden und ihre geschlechtsneutrale Interpretation erfordert einen geistigen Mehraufwand.
Dieser Mehraufwand ist im Normalfall nur gering, aber er muss in fast jedem Satz geleistet werden - und zwar vor allem von Frauen, die sich ständig fragen müssen, ob sie gerade „mitgemeint“ sind oder nicht. Geschlechtergerechte Sprache ist aus meiner Sicht vor allem wichtig, weil sie diesem ständigen Mehraufwand, dieser ständigen Unsicherheit entgegenwirkt.
ORF.at: Sehen Sie eine Änderung im allgemeinen Sprachgebrauch als Voraussetzung für eine gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen?
Stefanowitsch: Ja. Und nicht nur im Sprachgebrauch. Solange der Mann symbolisch der Normalfall ist - ob in der Sprache, auf Piktogrammen wie Verkehrszeichen und Notausgangsschildern, bei der Festlegung von Hauptfiguren in Romanen, Filmen usw. -, so lange bleibt er auch im Denken der Normalfall.
ORF.at: Gegenderte Texte sind immer wieder ein Aufregerthema. Der übliche Vorwurf lautet: Solange es keine Gleichstellung in der „Realität“, also bei Jobs, Gehältern etc. gibt, sei das doch nur eine sinnlose Alibiaktion. Was entgegnen Sie dem?
Stefanowitsch: Dem entgegne ich zunächst, dass auch Sprache ein Teil der „Realität“ ist, dass es also ein Scheinargument ist, zwischen Jobs und Gehältern einerseits und Sprache andererseits zu unterscheiden und die beiden Seiten dann gegeneinander auszuspielen. Als Materialist würde ich sogar zustimmen, dass die ökonomische und rechtliche Benachteiligung von Frauen schlimmer ist als die sprachliche, aber Pest ist auch schlimmer als Cholera, und trotzdem würde jeder vernünftige Mensch beides bekämpfen.
Diejenigen, die sprachliche Gleichstellung für eine sinnlose Alibiaktion halten, sind übrigens meiner Erfahrung nach nur äußerst selten engagierte Verfechter von Frauenquoten, Einheitslöhnen und anderen Werkzeugen zur Herstellung wirtschaftlicher Geschlechtergerechtigkeit.
ORF.at: Spricht etwas gegen eine durchgängige und dauerhafte Verwendung des generischen Femininums?
Stefanowitsch: Es kommt darauf an, was damit erreicht werden soll. Als Gegengewicht zum übermächtigen generischen Maskulinum ist das generische Femininum eine schöne, grammatisch unproblematische und leicht zu erlernende Alternative - die Formen sind alle da, sie müssen nur verwendet werden.
Als flächendeckende Dauerlösung hätte das generische Femininum aber viele der Probleme, die das generische Maskulinum auch hat - die Hälfte der Sprachgemeinschaft müsste eben ständig darüber nachdenken, ob und wo sie „mitgemeint“ ist und wo nicht. Da wir Männer uns sowieso ständig und überall mitgemeint fühlen, wäre ich bei einer Entscheidung zwischen dem generischen Femininum und dem generischen Maskulinum aber trotzdem für das Femininum.
ORF.at: Wie kann das Problem eines nicht diskriminierenden Sprachsystems und Sprachgebrauchs idealerweise gelöst werden? Gibt es eine Lösung, die von der gesamten Sprecherinnengemeinschaft angenommen und mitgetragen würde? Und die am Ende für alle Geschlechter gerecht ist?
Stefanowitsch: Die eine Lösung, die geschlechtergerecht ist und gleichzeitig alle liebgewonnenen und nie hinterfragten Gewohnheiten bedient, gibt es nicht. Und es wird sie wohl auch nie geben.
ORF.at: Wie gendern Sie? Nutzen Sie in privater Kommunikation andere Formen als in Fachtexten oder in der Kommunikation mit Behörden?
Stefanowitsch: In formelleren Zusammenhängen wie z. B. in Fachtexten oder der Kommunikation mit Behörden verwende ich soweit wie möglich geschlechtsneutrale Formen (wie Studierende) oder, wo das nicht geht, Schrägstrichformen (wie Student/innen). In informellen Texten und in Gesprächen bin ich etwas kreativer, verwende zum Beispiel weibliche Formen in generischen Zusammenhängen.
Eine Zeit lang habe ich auch die Sternchenform (Student*innen) verwendet, die mir ästhetisch besser gefällt als das Binnen-I oder die Schrägstrichform - sie stammt aber aus queer-feministischen Zusammenhängen, denen ich mich ideologisch nur bedingt zugehörig fühle, sodass ich inzwischen wieder darauf verzichte.
ORF.at: Das Deutsche ist, was geschlechtergerechte Sprache betrifft, sehr asymmetrisch: Es gibt für fast alles weibliche Formen, verwendet werden aber hauptsächlich die männlichen. Im Englischen hingegen gibt es nur wenige weiblich markierte Formen, wie etwa actress. Meist gilt eine Form für beide Geschlechter. Gibt es in Sprachgemeinschaften, in denen es nur wenige oder gar keine männlich oder weiblich markierten Formen gibt, mehr Geschlechtergerechtigkeit?
Stefanowitsch: Das ist sehr schwer zu sagen. Es gibt eine Studie von Jennifer Prewitt Freilino und Kolleginnen, die eine globale Korrelation zwischen der Geschlechtergerechtigkeit und der Abwesenheit von grammatischem Geschlecht zeigt, aber wir brauchten einen zweiten, unabhängigen Datensatz, um das Ergebnis zu replizieren, und den kann es mangels einer zweiten Erde mit uns ähnlichen Gesellschaften nicht geben.
Es gibt auch erste experimentelle Hinweise darauf, dass mehrsprachige Sprecher/innen eher geschlechterstereotyp denken, wenn sie gerade einen Text in einer Sprache mit grammatischem Geschlecht gelesen haben als wenn sie einen Text in einer Sprache ohne grammatisches Geschlecht gelesen haben. Diese Forschung steht aber noch am Anfang, wir sollten da keine voreiligen Schlüsse ziehen.
ORF.at: Könnten sich neutrale Formen im Deutschen langfristig durchsetzen, wie etwa in Finnland das geschlechtsneutrale Pronomen „hän“ bzw. in Schweden „hen“?
Stefanowitsch: Neutrale Formen können sich dort durchsetzen, und tun das auch schon, wo sie im Sprachsystem ohnehin vorhanden sind und wo sich nur ihr Gebrauch verändern muss - ein gutes Beispiel sind Substantive, die aus Partizipien abgeleitet sind, wie Studierende, Zuhörende, Geflüchtete usw.
Dass sich im Deutschen neu erfundene Formen - zum Beispiel geschlechtsneutrale Pronomen wie „sier“ oder „x“ - auf breiter Ebene durchsetzen werden, bezweifle ich. Sie werden auf bestimmte Subkulturen beschränkt bleiben, deren Mitglieder ausreichend motiviert sind, um ihren eigenen Sprachgebrauch bewusst weiterzuentwickeln.
Das Schwedische „hen“ konnte sich nur deshalb ein kleines Stück weit im allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzen, weil Geschlecht in der schwedischen Grammatik so gut wie keine Rolle spielt und weil die Form „hen“ sich lautlich und orthografisch unauffällig zwischen den geschlechtsspezifischen Pronomen „han“ und „hun“ einfügt.
ORF.at: Sie haben im November in Ihrem Blog geschrieben: „Sprachliche Revolution oder sprachliche Benimmregeln - beides geht nicht“. Was braucht es eher, um die Gesellschaft zu verändern?
Stefanowitsch: Da bezog ich mich auf die Entscheidung der deutschen Grünen, für Parteitagsanträge nur noch die Sternchen-Form zu erlauben. Diese Art von Vorschrift wird immer schnell zu einer gedankenlosen Routine erstarren - sie passt vielleicht zu einer Behörde, in der Schriftstücke ohne große Leidenschaft produziert werden, aber nicht zu einer politischen Partei, die ein echtes gesellschaftliches Umdenken erreichen will.
Gesellschaftliches Umdenken erfordert aus meiner Sicht eher die Art von Störkommunikation, die meinx Kollegx Lann Hornscheidt von der Humboldt-Universität mit den x-Formen versucht - diese Formen sollen auffallen, quer liegen, am Ohr und am Auge kratzen, um zu zeigen: Hier hat die deutsche Sprache ein Problem mit männlicher Dominanz oder mit dem Zwang, ständig das Geschlecht von Personen zu erwähnen. Auch diese Formen müssten natürlich durch neue ersetzt werden, sobald sie zu sehr Gewohnheit würden.
ORF.at: Eine letzte Frage: Wenn ein Onlinemedium wie ORF.at für nur einen Tag, nämlich ausgerechnet dem Frauentag, alle Texte im generischen Femininum schreibt: Ist das eine Alibiaktion oder ein durchaus wichtiges Zeichen, das aufzeigt, wie es ist, wenn Männer nur mitgemeint sind?
Stefanowitsch: Die einen würden es vermutlich als Alibiaktion betrachten, die anderen als Vorboten für den Untergang des Mannes. Ich würde es am ehesten als Experiment betrachten. Für die Schreibenden, denen es zeigen würde, wie tief das Maskulinum im Sprachgebrauch steckt - es geht ja nicht nur um Personalpronomen und Personenbezeichnungen, sondern auch um Indefinitpronomen wie „man“ und „jede/r“ oder Redewendungen wie „Manns genug sein“, „der einfache Mann auf der Straße“ usw. Und für die Lesenden, von denen sich sehr viele sehr lautstark aufregen werden, was ihnen und Ihnen einen Anlass bietet, darüber nachzudenken, woher diese Aufregung eigentlich kommt.
Das Interview führte Romana Beer, ORF.at
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