Das Gesamtbild aus den Puzzlesteinen
Polizeiversagen, unzureichende Kommunikation und gegenseitiges Misstrauen: So lauteten die Vorwürfe, die sich die Polizeibehörden nach den Anschlägen im November in Paris anhören mussten. Im neu gegründeten Anti-Terror-Zentrum (European Counter Terrorism Center, ECTC) bei Europol in Den Haag laufen nun die Fäden der Ermittlungen zusammen.
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„Aus vielen kleinen Puzzlesteinen müssen wir ein Gesamtbild schaffen, das kann uns dann hoffentlich dazu leiten, dass wir geplante Anschläge verhindern“, sagte Europol-Sprecher Gerald Hesztera bei einem Besuch von ORF.at im Anti-Terror-Zentrum. Die Fahndung nach Tätern und Hintermännern hat bei den Terrorspezialisten vor allem auch präventiven Charakter - und so veröffentlichte Europol kurz nach dem Start des ECTC eine drastische Warnung: Weitere großangelegte Angriffe der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Europa seien zu befürchten.
„IS hat andere Kapazitäten entwickelt“
„Wir sehen, dass IS jetzt andere Kapazitäten entwickelt hat“, präzisierte der Niederösterreicher Hesztera, der seit über sieben Jahren in Den Haag für Europol arbeitet. Neben dem Phänomen der „Foreign Fighters“, Menschen, die aus der EU nach Syrien oder in den Irak gehen und dann radikalisiert zurückkommen, sei vor allem die Rekrutierung direkt in der EU ein Problem.

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Handydaten werden im ECTC in völlig von der Außenwelt abgeschirmten Faraday’schen Käfigen ausgewertet
Selbst die Ausbildung finde mittlerweile auch in Europa statt. Das Bedrohungsbild habe sich geändert, so Hesztera: „Wir müssen uns darauf einstellen, dass noch weitere ähnliche Attacken folgen.“ Das schließe natürlich auch weiterhin Angriffe anderer Art - beauftragt von Al-Kaida oder durchgeführt von auf eigene Faust handelnden „einsamen Wölfen“ - nicht aus.
Taskforce „Fraternite“
Die Ermittlungstaskforce „Fraternite“, die nach den Pariser Anschlägen eingesetzt wurde, ist so etwas wie das Aushängeschild des ECTC. „Paris ist eine Blaupause dafür, was das ECTC tun kann“ - so Hesztera. Konkret sei das zum Beispiel die Unterstützung der belgischen und französischen Behörden mit Experten für Terrorismusfinanzierung, Waffenhandel, Onlinepropaganda und speziell geschulten Übersetzern.

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Im Großraumbüro werten Analysten eingehende Anfragen aus ganz Europa aus
„Es ist so, dass das ECTC keine Neuerfindung per se ist“, räumte Hesztera ein. Schon nach 9/11 seien Anti-Terror-Kompetenzen gebündelt worden. „Was wir jetzt machen, ist, dass wir das verstärken und erweitern.“ Überraschend neu ist hingegen die Beschäftigung mit Sozialen Netzwerken. Erst 2015 gegründet, konzentriert sich die Internet Referral Unit (IRU) darauf, radikale Inhalte aufzuspüren und sie dann von den Betreibern - mit denen man diesbezüglich in sehr gutem Kontakt stehe - aus dem Netz nehmen zu lassen.

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Europol-Sprecher Gerald Hesztera
„Je mehr Daten wir haben, desto bessere Rückschlüsse können wir treffen, desto besser können wir unsere Mitgliedsstaaten unterstützen. Das ist die Hauptaufgabe des Anti-Terror-Zentrums“, sagte Hesztera, der - wie ein Großteil seiner Kollegen - vor der Europol-Karriere seine Sporen bei Gendarmerie und Polizei verdiente. Seit der Gründung des Anti-Terror-Zentrums sei hinsichtlich der Kooperation unter den Europol-Mitgliedsländern wesentlich mehr passiert.
„Wir bleiben immer in der zweiten Reihe“
Im Falle eines Anschlags würde sofort eine Alarmkette in Gang gesetzt, beschreibt der Leiter des Operational Centres beim ECTC, Zoltan Nagy. „Wir sind hier im Herz von Europol.“ In Zusammenarbeit mit den direkt im Gebäude stationierten Verbindungsbüros der Mitgliedsländer würden erste Reaktionen beschlossen. „Schon einen Tag nach den Paris-Anschlägen waren Kollegen in Paris und Brüssel stationiert.“
Dort seien die Europol-Experten zur Unterstützung der nationalen Polizeieinheiten im Einsatz gewesen, als Analysten mit direktem Zugriff auf die Europol-Datenbanken, aber auch Waffenexperten und Spezialisten für die Auswertung von Mobiltelefondaten. Grundsätzlich gelte aber, dass die Europol-Kollegen bei den Einsätzen immer in der zweiten Reihe blieben.
„Europol unterstützt und koordiniert - die Ermittlungen bleiben dabei immer in den Händen der Polizisten, der Staatsanwälte und der Richter vor Ort“, so auch Hesztera. Das sei mit ein Grund, warum Europol selbst keine konkreten Terrorwarnungen veröffentlichen oder Auskünfte zu vereitelten Anschlägen geben könne: „Unsere Mitgliedsstaaten haben in den letzten Wochen und Monaten sehr viele Erfolge gehabt.“ Inwieweit Europol dazu beigetragen habe, dazu wollte sich Hesztera nicht äußern.
Sophia Felbermair, ORF.at, aus Den Haag
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