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Wie viel Wachstum braucht das Land?

Die Zeiten des Turbowachstums in China sind vorbei. Dennoch geht der neue Fünfjahresplan von einem jährlichen Wirtschaftswachstum von mindestens 6,5 Prozent aus - trotz vieler Unsicherheitsfaktoren. „Qualität vor Quantität“ lautet die Devise der Regierung in Peking, die eine weiche Landung im wirtschaftlichen Krisenumfeld versucht. Doch die wirtschaftlich stärksten Provinzen Chinas steigen weiter aufs Gaspedal.

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Guangdong im Süden ist die reichste Provinz des Landes mit einem Bruttoinlandsprodukt von knapp 10.000 US-Dollar pro Kopf und Jahr. Zum Vergleich: In ganz China liegt es bei rund 6.800 Dollar, in Österreich bei rund 50.000 Dollar. Mit einem durchschnittlichen Wachstum von 13 Prozent war Guangdong 26-mal hintereinander die Nummer eins im innerchinesischen Wachstumsrennen.

Frühes Experimentierfeld für Marktwirtschaft

Die Nähe zu Hongkong und Macao dürfte den langjährigen Staatschef Deng Xiaoping vor mehr als 30 Jahren dazu veranlasst haben, Guangdong als erstes Experimentierfeld für die Marktwirtschaft in China auszuwählen.

Luftaufnahme von Guangzhou

ORF/Josef Dollinger

Guangzhou, die Hauptstadt der Provinz Guangdong, kämpft mit Smog

Besonders stolz ist man in Guangdong darauf, dass die Provinz mit ihrem Turbowachstum die drei Tigerstaaten Singapur, Taiwan und auch Hongkong hinter sich gelassen hat. Mit den derzeitigen Wachstumsraten von mehr als sieben Prozent will man demnächst auch Südkorea überholen.

Schneller als Peking

Das erste „Hundertjahrziel“ Chinas, die Schaffung von bescheidenem Wohlstand für alle bis zum 100. Geburtstag der KP Chinas im Jahr 2021, will Guangdong zwei Jahre früher erreichen, als das für ganz China geplant ist. „Bis 2018 wollen wir ein Bruttoinlandsprodukt von 17.000 US-Dollar pro Kopf erreichen“, prophezeit der stellvertretende Generalssekretär der Provinzregierung, Wu Ken. „Damit hätten wir den Wohlstand der Bevölkerung verdoppelt.“

Die Wirtschaftskrise der letzten Jahre sei auch an Guangdong nicht spurlos vorübergegangen, sagt Wu Ken, Spitzendiplomat und ehemaliger Botschafter Chinas in Österreich. Die schwierige Phase soll jetzt zur Weiterbildung der Arbeiter genutzt werden, denn die Wirtschaft soll stärker auf Hochtechnologie ausgerichtet werden. „Noch im Vorjahr wurden in Guangdong drei Milliarden Schuhe produziert“, erklärt Wu Ken - mit Stolz, aber auch Wehmut in der Stimme. Drei Milliarden produzierte Laptops wären ihm wohl lieber.

Wachstumslokomotive im Hinterland

Genau darauf setzt Chongqing, der erste Herausforderer der Provinz Guangdong: Die 13-Millionen-Einwohner-Stadt bezeichnet sich selbst als „größte Stadt der Welt“ und gilt als Wirtschaftsturbo des Hinterlandes.

Stadtentwicklungsmodell von Chongqing

ORF/Josef Dollinger

Stadtentwicklungsmodell von Chongqing

Auf einer Fläche so groß wie Österreich leben in der Region Chongqing derzeit 31 Millionen Einwohner, die alles daransetzen, im Rennen um das Wirtschaftswachstum Guangdong vom Spitzenrang zu verdrängen. Chongqing setzt unvermindert auf Betriebsansiedlungen, auch wenn neuerdings ausländische Investoren vereinzelt ins billigere Vietnam abwandern.

Megacity setzt auf Technologie

Die Megacity Chongqing, die den Status einer regierungsunmittelbaren Stadt hat und damit nur Peking unterstellt ist, hat bereits ein Bruttoinlandsprodukt von knapp 8.000 US-Dollar pro Kopf erreicht. Um Guangdong zu überholen, soll jetzt auf Teufel komm raus investiert werden, oder besser: auf Investor komm rein. Bereits jetzt kommt weltweit jeder dritte Laptop aus den Fabriken in Chongqing. Im Vorjahr wurden 2,6 Millionen Autos in Chongqing produziert, weitere Fertigungshallen internationaler Autokonzerne werden bereits hochgezogen.

Stadtentwicklungsmodell von Liangjiang

ORF/Josef Dollinger

Liangjiang ist eines der Boom-Gebiete innerhalb der Megacity Chongqing - auch hier hat man große Pläne

Einen zusätzlichen Wachstumsschub erwartet sich Chongqing von der Produktion von Elektroautos. Verhandlungen mit ausländischen Produzenten befinden sich derzeit in einer heißen Phase, heißt es aus Kreisen der Provinzregierung. Auch der österreichische Leiterplattenhersteller AT&S bezieht demnächst eine zusätzliche Fertigungshalle nahe zum Ufer des Jangtse-Flusses.

Peking zieht die roten Linien

Das Wachstumsduell zwischen Chongqing und Guangdong wird in Peking mit Wohlwollen, aber auch mit Skepsis betrachtet. Einerseits freut man sich über den Wachstumsschub aus den Power-Provinzen, andererseits wird argwöhnisch darauf geachtet, dass sich keine Eigendynamik entwickelt, die von Peking aus nicht mehr kontrolliert werden kann. Die Regierung in Peking entsendet zunehmend Spitzendiplomaten in Provinzregierungen, um dort zwei, drei Jahre den Puls des Volkes zu spüren.

Großbaustelle im Stadtzentrum von Chongqing

ORF/Josef Dollinger

Großbaustellen, wohin das Auge reicht - hier im Zentrum von Chongqing

Wu Ken lernt als stellvertretender Generalsekretär in der Provinzregierung Guangdong seit zwei Jahren das Volk kennen, demnächst soll er wieder auf einen wichtigen internationalen Botschafterposten wechseln. Kritiker sehen in dieser Job-Rotation eher den Wunsch Pekings, mit Vertrauensleuten in den Provinzen nach dem Rechten zu sehen.

„Einen Systemwechsel wird es in China nie geben“, mit diesen Worten zieht Wu Ken die wichtigste rote Linie der Kommunistischen Partei, „nur die KP kann ein 1,3-Milliarden-Volk wie China mit seinen 56 Nationalitäten führen.“

Josef Dollinger, ORF, China

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