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Der Rausch des Bösen

Ein drogensüchtiger Adolf Hitler? Der Nationalsozialismus eine einzige Drogenorgie? Das und mehr behauptet der Schriftsteller und Drehbuchautor Norman Ohler in seinem Buch „Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich“, für das der renommierte Historiker Hans Mommsen das Nachwort geschrieben hat.

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Man sollte meinen, dass die unzähligen Zeitgeschichtsforscher in den sieben Jahrzehnten nach Kriegsende jedes Feld, jeden Bereich und jeden Aspekt der NS- und Hitler-Forschung ausreichend untersucht haben. Ohler sieht das anders und rechnet mit der „Gilde der Hitler-Forscher“ ab: „Die Zunft tritt offensichtlich auf der Stelle“ und „übersieht den blinden Fleck“. Zwar seien die „äußeren Ereignisse seit Dekaden erfasst“, die inneren Strukturen und vor allem Hitler als „das personifizierte Böse“ blieben hingegen ein „fragwürdiger Mythos“.

Mit dem „blinden Fleck“ meint Ohler Hitlers angeblich immensen Drogenkonsum. Überzeugt von seiner These sagt er, dass man diesen Mythos nur entzaubern könne, indem man sich der Figur des Theodor Morell widmet. Morell war ab 1936 Hitlers Leibarzt, der detaillierte Aufzeichnungen über dessen Gesundheitszustand hinterließ. Dieser Nachlass ist Kernstück des Buches: Akribisch untersucht Ohler Morells Eintragungen, vergleicht und kombiniert sie mit vielen weiteren Akten und Korrespondenzen und glaubt so das „Vakuum“ zu füllen, das „alle Hitler-Bücher aufweisen“ würden, weil sie eben diesen wesentlichen Punkt auslassen. Dabei setzt Ohler auf das Motto „Klotzen statt kleckern“ und handelt sich gehörige Kritik ein.

Die Volksdroge

Ohler zeichnet zu Beginn die Entstehungsgeschichte von Morphium, Kokain und Heroin detailliert nach und geht im weiteren Verlauf auf die Anfänge und den Ausbau der pharmazeutischen Industrie in Deutschland ein, die durch ein ganz besonderes Mittelchen beachtliche Erfolge verzeichnete: Methamphetamin. Heute vor allem durch die US-amerikanische TV-Serie „Breaking Bad“ als Crystal Meth bekannt, wurde es bereits 1937 von Fritz Hauschild, Chefchemiker der Temmler-Werke, entwickelt und unter dem Markennamen Pervitin vertrieben.

Obgleich beide Mittel hochgefährlich sind, ist Crystal Meth, dem bei der laienhaften Herstellung „Gifte wie Benzin, Batteriesäure oder Frostschutzmittel“ zugesetzt werden, gesundheitsschädlicher als das Pervitin der Dreißigerjahre. Nichtsdestoweniger führte der Pervitin-Konsum mit der „Reinform“ von Methamphetamin zu einem ebenso vernichtenden und allgemeinen Gehirnabbau.

Aber weder die gesundheitlichen Gefahren noch Verbote, die ab 1939 im Zuge der vehementen Rauschgiftbekämpfung der Nationalsozialisten erteilt wurden, änderten etwas am Konsumverhalten der deutschen Zivilbevölkerung: „Ganz legal machte dieser Stoff (...) überall im Deutschen Reich und später auch in den besetzten Ländern Europas Karriere und wurde zur akzeptierten, in jeder Apotheke erhältlichen ‚Volksdroge‘.“

Leistung für alle

Laut Ohler sprach das Aufputschmittel beinahe jeden an und verbreitete sich rasant in allen Schichten: „Ob es Sekretärinnen waren, die damit schneller tippten, Schauspieler, die sich vor der Vorstellung auffrischten, Schriftsteller, die die Stimulanz des Methamphetamins für klare Nächte am Schreibtisch nutzten, oder Arbeiter an den Fließbändern der großen Fabriken, die aufgeputscht ihren Ausstoß erhöhten.“ Kollektive Leistungssteigerung überall, sogar bei der Hausarbeit: Eine methamphetaminhaltige Pralinensorte kam auf den Markt und wurde mit dem Slogan „Hildebrand-Pralinen erfreuen immer. Mother’s little helper“ beworben.

Halluzinationen an der Front

Aber nicht nur ein großer Teil der Bevölkerung war süchtig. Obgleich sich die Nationalsozialisten „als Saubermänner gaben, mit propagandistischem Pomp und drakonischen Strafen eine ideologisch unterfütterte strikte Antidrogenpolitik umsetzten“, schluckten, schnupften und spritzten auch sie ebenso viele Substanzen. In diesem Kontext zitiert Ohler Briefe Heinrich Bölls an seine Eltern, geschrieben von der Front, in denen dieser in einem ganz selbstverständlichen Tonfall wiederholt um Pervitin bittet: „Schickt mir doch bei Gelegenheit noch einmal Pervitin; das kann ich jetzt bei den vielen Wachen gut gebrauchen“, und: „Ich bin totmüde und will nun Schluß machen. Schickt mir nach Möglichkeit bald noch etwas Pervitin“.

Ohler vermutet, dass Böll kein Einzelfall war und stattdessen „Hunderttausende oder gar Millionen deutscher Soldaten bei ihren Eroberungsfeldzügen unter dem Einfluss von Methamphetamin standen“. Die leistungssteigernde Substanz ist auch energie- und motivationssteigernd, lässt Müdigkeit verschwinden und vertreibt den Hunger. Also geradezu ideal für die Kriegsführung, denn „ein Soldat, der schläft, ist ein nutzloser, zur Leistung unfähiger, ein gefährlicher Soldat - denn womöglich schläft der Feind ja gerade nicht“.

Auch die Berichte, die kurz vor dem völkerrechtswidrigen Angriff auf Polen 1939 verfasst wurden, sprechen laut Ohler für sich: „Alle frisch und munter, ausgezeichnete Disziplin. Leichte Euphorie und erhöhter Tatendrang. Geistige Ermunterung, sehr angeregt. Kein Unfall. Lange Wirkungsdauer. Nach Einnahme der 4. Tablette Doppelt- und Farbensehen.“ Was folgt, ist die Kriegserklärung von England und Frankreich und der unberechenbare, blutrünstige deutsche Westfeldzug im Sommer 1940.

Hitler unter Drogen

Hitler war zu diesem Zeitpunkt bereits seit vier Jahren Morells Patient. Ende der Dreißigerjahre verabreichte dieser ihm noch regelmäßig „Kraftspritzen“, bestehend aus Glukose und Vitaminen, zudem nahm Hitler die eigens für ihn angefertigten, „in Goldpapier gewickelten und mit dem Stempel SF - ‚Sonderanfertigung Führer‘ - versehenen“ Vitamintabletten, ein Gemisch aus „Hagebuttenpulver, getrockneter Zitrone, Hefeextrakt, Magermilch und raffiniertem Zucker“. So harmlos ging es in den Vierzigerjahren nicht mehr zu.

Adolf Hitler im Mai 1937 in Deutschland

AP

Adolf Hitler im Mai 1937 in Deutschland

Morell behandelte Hitler von August 1941 nach einem Ruhranfall bis April 1945 beinahe jeden Tag. In diesem Zeitraum notierte Morell in seinen Aufzeichnungen eine enorme Anzahl verschiedener Medikamente, Hormone, Steroide und ab 1943 schließlich auch das starke Betäubungsmittel Eukodal. Einnahmen und Injektionen bestimmten den Tagesablauf. Hitlers Rückzug aus der Öffentlichkeit, sein Realitätsverlust und die damit einhergehenden irrationalen und verhängnisvollen Befehle waren nach Ohlers Ansicht die unweigerlichen Konsequenzen seines sich immer mehr verschlechternden Gesundheitszustands, die den Verlauf des Krieges stark beeinflussten.

Cover des Buches "Der totale Rauch" von Norman Ohler

Kiepenheuer & Witsch

Buchhinweis

Norman Ohler: Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich. Kiepenheuer & Witsch, 368 Seiten, 20,60 Euro.

Die Auswirkungen

Sogar als Waffe am Verhandlungstisch wurden Drogen eingesetzt. Ohler schreibt von der Nacht zum 15. März 1939, in der sich „der gesundheitlich angeschlagene tschechoslowakische Präsident Emil Hacha in der Neuen Reichskanzlei“ aufgehalten haben soll, „ein Papier, das ihm die Deutschen vorlegten, de facto eine Kapitulation seiner Truppen vor der Wehrmacht, nicht unterzeichnen wollte“, daraufhin „einen Kreislaufkollaps erlitt und nicht mehr ansprechbar war“. Morell wurde sofort geholt, „der mit Koffer und Spritzbesteck herbeieilte“ und Hacha „ein derart anregendes Mittel injizierte, dass er binnen Sekunden wie von den Toten wiederauferstand und das Papier unterzeichnete, das das vorläufige Ende seines Staates besiegelte“.

Die Recherchearbeit, die Ohler für sein Buch leistete, ist beachtlich, wenngleich seine Schlüsse oftmals recht interpretativ daherkommen. Er selbst spricht von den Unmengen an „nicht immer eindeutig interpretierbaren“, in einer „schwer lesbaren Handschrift“ verfassten, voll „kryptischer Abkürzungen“ versehenen Notizen von Morell. So führt er wohl eher einen „Indizienprozess“. Laut einer bitterbösen „Spiegel“-Kritik schießt er dabei weit übers Ziel hinaus, etwa, was das Ausmaß des Eukodalkonsums Hitlers betrifft. Aber zumindest legt Ohler die Grundlagen für seine Mutmaßungen offen. Und spannend ist dieser Indizienprozess allemal: Die Geschworenen sind hier die Leser.

Lena Eich, ORF.at

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