„Kühlen Kopf bewahren“
„Wir haben keine Zeit mehr“ - mit diesen Worten hat Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve unmittelbar nach den Anschlägen von Paris unterstrichen, warum nicht nur dringend Grenzkontrollen verstärkt werden sollen, sondern auch rasch die Überwachung und Speicherung aller Fluggastdaten (PNR) innerhalb der EU kommen müsse.
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Europas oberster Datenschützer, Giovanni Buttarelli, widerspricht jedoch heftig. Und die Datenschutz-NGO EDRi warnt, dass die PNR-Richtlinie nun im Eiltempo durchgedrückt wird - und die ihrer Ansicht nach viel wichtigere EU-Datenschutzrichtlinie zur Zusammenarbeit von Polizei und Justiz aufs Abstellgleis gerät.
Noch mehr Daten zu sammeln, und das wahllos - auch von allen EU-Bürgern -, werde nicht dabei helfen, geplante Anschläge zu verhindern, ist der Leiter der Europäischen Datenschutzbehörde (EDPS) Buttarelli überzeugt. Die Reisen der geschätzt 3.000 bis 5.000 Syrien-Rückkehrer würden großteils bereits überwacht. „Wir wissen, wer sie sind und wann sie reisen.“ Diese Informationen würden bereits jetzt in verschiedenen Datenbanken gespeichert.

ORF.at/Guido Tiefenthaler
Buttarelli: Auch im Kampf gegen Terror Grundrechte wahren
„Illusion“ der einfachen Lösung
Die wirkliche Schwäche liegt laut Buttarelli darin, dass es keinen oder viel zu wenig Datenaustausch gebe - und dass es zu wenige Ermittler gebe, um die verdächtigen Personen zielgerichtet überwachen zu können.
Dass die Politik nach Terroranschlägen wie in Paris zuerst nach weiteren Instrumenten rufe, sei „menschlich“. „Aber es würde viel hilfreicher sein, kühlen Kopf zu bewahren und die Lage zu analysieren, wo die Risiken wirklich liegen und wie wir die Sicherheitsmaßnahmen verbessern können“.
Politik wie Ermittlungsbehörden würden dem „Technologie-Mythos“ aufsitzen, der „Illusion, dass man am Schreibtisch sitzend die Lösung finden kann, indem man etwas in den Computer eingibt“. Erfolgreiche Anti-Terror-Arbeit erfordere aber Kontakte in die Szene, Datenaustausch, Analyse. Hinter dem Vorgehen der Politik stehe die falsche Hoffnung, Schwächen in der Ermittlungsarbeit mit Hilfe von Technologie ausgleichen zu können, so Buttarelli.
„Sehr invasiv - aber gezielt“
Buttarelli betont dabei, dass er nicht gegen weitreichende Anti-Terror-Maßnahmen ist, im Gegenteil: „Ich wäre als Datenschutz-Watchdog bereit, Polizeikräften zu erlauben, sehr invasiv zu ermitteln“ - vorausgesetzt, die Ermittlungen „sind gezielt, notwendig, verhältnismäßig und auf temporärer Basis“.
Politiker sollten „besser verstehen, was Polizei- und Anklagebehörden wirklich brauchen“. Der Italiener, der in seiner Heimat auch Erfahrung im Kampf gegen die Mafia sammelte, fordert im ORF.at-Interview, die Politik müsse die Polizeibehörden „zwingen, mehr Daten zu teilen und auszutauschen“, insbesondere auf europäischer Ebene. Es gebe eine „großartige Architektur“ bei Europol und Eurojust für eine EU-weite Kooperation, doch sie werde kaum genützt. „Die Erfahrung zeigt, dass Polizeibehörden lange Zeit brauchen, um ihre Kultur zu ändern und Informationen wirklich auszutauschen.“
Datenschutzpaket wird aufgeschnürt
Joe McNamee von der Datenschutz-NGO European Digital Rights (EDRi) verweist darauf, dass nun ein Paket an Datenschutzgesetzgebung wieder aufgeschnürt werde: Nach den Anschlägen auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ im Jänner habe man sich geeinigt, drei Gesetzesmaterien in einem gemeinsamen Zeitplan abzuhandeln. Da ist zunächst die neue Datenschutzverordnung, die vor allem Rechte und Pflichten zwischen Konsumenten und Unternehmen regelt und ein zentraler Baustein für den geplanten digitalen Binnenmarkt ist. Eine politische Einigung zwischen EU-Rat und -Parlament könnte laut Verhandlern bis Jahresende stehen.
Zweiter Teil ist eine Datenschutzrichtlinie zur Zusammenarbeit von Polizei und Justiz. Sie soll einheitliche Datenschutzstandards für die Ermittlungsbehörden in den EU-Staaten schaffen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass es zu einem EU-weiten organisierten Datenaustausch zwischen den Behörden der EU-Staaten kommt.
Behörden misstrauen einander
Diese Richtlinie ist nach Ansicht von Datenschützern der wichtigste Baustein, um die Anti-Terror-Arbeit effizienter und erfolgreicher zu machen. Derzeit herrscht hier zwischen den einzelnen nationalen Polizeibehörden zum Teil großes Misstrauen, weshalb relevante Daten oft nicht weitergegeben werden. McNamee geht davon aus, dass sich diese Richtlinie nun weiter verzögern wird, weil Frankreich und andere EU-Staaten nach den Paris-Attentaten vor allem den dritten Teil, die Fluggastdatenspeicherung (PNR), forcieren.
Neben Zweifeln an der Effektivität von PNR betonen Buttarelli und McNamee unisono, dass diese gegen den Vertrag von Lissabon und die EU-Grundrechtecharta verstoßen würde. Denn eine solche Maßnahme sei nur dann zulässig, wenn man zuvor den „Notwendigkeitsnachweis“ erbringen könne. Den gibt es laut Buttarelli bisher aber nicht. Stattdessen habe der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit zwei einschlägigen Urteilen - der Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung und des „Safe Harbour“-Abkommens zur Datenübermittlung in die USA - klare Grenzen der Massenüberwachung aufgezeigt.
Guido Tiefenthaler, ORF.at, aus Brüssel
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