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Katze gefunden, Zange gesucht

Das Wiener Start-up für Nachbarschaftshilfe, FragNebenan, hat die 15.000-Mitglieder-Marke erreicht und will nächstes Jahr nach Graz expandieren. Was macht das „Facebook fürs Grätzel“ eigentlich so attraktiv?

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„Liebe Nachbarn, ich habe grüne Wandfarbe für ca. 15 Quadratmeter zu verschenken“, schreibt Tina und schickt auch gleich ein Foto mit. Bernd braucht nur kurz einen 14er-Schraubenschlüssel, und Susanne fragt, ob jemand in den kommenden zwei Wochen ihre beiden einäugigen „Piratenkatzen“ hüten kann.

Und dann ist da noch Florian, der eine Rohrzange braucht, und das wohl eher dringend. Kurz stellt man sich vor, wie er verzweifelt den Lappen unter die Abwasch presst. Zum Glück gibt es in allen Fällen schon nach wenigen Minuten Antwort. Katzenpflege - gern. Schlüssel und Zange werden geborgt. Alles gut. Und wenn trotzdem Stress herrscht, bietet Verena zwei Gassen weiter gratis Meditationsstunden an.

Der Radius ums traute Heim

Das im Jänner 2015 online gegangene Nachbarschaftsnetzwerk FragNebenan hat in diesen Tagen die 15.000-Mitglieder-Marke erreicht. Anders als der große Bruder Facebook, dessen 1,44 Milliarden Mitglieder seit 2004 „Freunde“ quer über die Kontinente sammeln, vernetzen sich auf FragNebenan Nachbarn: Als Mitglied sieht man andere Mitglieder gereiht nach der Nähe. Zuerst jene, die im eigenen Haus wohnen, dann im Umkreis von „< 250“ und „< 500“ Metern.

In deren Profilen lassen sich ihre Interessen und mögliche Hilfsdienste ablesen: „Würde mal ältere Nachbarn unterstützen, etwas am Computer/Handy erklären, etwas Übersetzen, Pakete annehmen, Haustiere betreuen oder kurz auf die Kinder aufpassen“ steht da etwa. Die Idee ist, dass der Onlinekontakt über kurz oder lang zur realen Begegnung führt.

Gegenseitige Hilfeleistung statt Sozialdarwinismus

Der Bedarf nach einem solchen, persönlichen Forum scheint enorm. In einer Zeit, in der kleine Hilfsleistungen zunehmend von kommerziellen Angeboten abgedeckt werden – Lebensmittel lassen sich online nach Hause bestellen oder ein Dogwalker bietet stundenweise seine Dienste an –, scheint es den großen Wunsch nach einer nicht kommerziellen Alternative zu geben. Das Stichwort für Initiativen wie FragNebenan lautet „mutual aid“, gegenseitige Hilfeleistung.

Geprägt wurde dieser Begriff 1902 vom Soziologen und Biologen Pjotr Kropotkin, der damit sein Gegenmodell zu Darwins Theorie vom Überleben des Stärkeren umriss. Kropotkin war der Ansicht, dass die Stärke des Menschen, wie die Stärke der von ihm erforschten Ameisen oder Bienen, im Zusammenhalt und sozialen Denken läge. „Kooperation“, nicht rücksichtslose Verdrängung sah er als Schlüssel zum evolutionären Erfolg.

Kooperativen und Plattformen

Im Zusammenhang mit Nachbarschaftskooperativen erlebt Kropotkins Theorie der „gegenseitigen Hilfeleistung“ jetzt eine Renaissance: Gemeinsam werden urbane Gärten angelegt und gepflegt, in Großstädten gründen sich Kooperativen für Biolebensmittel oder, aktuell, Menschen schließen sich zusammen, um Flüchtlingen zu helfen. Im Netz gab es bisher wenige Plattformen, die diesen Gedanken unterstützen. Angebote wie das in den USA populäre Craigslist (Ende der 90er Jahre gegründet vom ehemaligen IBM-Programmierer Craig Newmark) verstehen sich eher als Umschlagplatz für Waren und Dienstleistungen.

Screenshot von Fragnebenan.com

Fragnebenan.com

Screenshot von Fragnebenan.com: Hier kann man Fragen eintippen, Dinge anbieten oder sich einfach mal kurz vorstellen

Und Nachbarschaftsnetzwerke wie das im Oktober 2011 vom Silicon Valley aus lancierte Nextdoor.com (derzeit nur US-weit, eine Expansion nach Europa ist geplant) fokussieren eher auf Sicherheitsvorkehrungen und gegenseitige Überwachung: So ruft der Nextdoor-Blog regelmäßig zum landesweiten Sicherheitsmonat auf, in dem sich Mitglieder über drohende Buschfeuer, Hurrikans oder Stromausfälle austauschen können. Und: Man kann hier Neighbourhood-Watchgroups, also private Sicherheitswachen, organisieren. Bleibt die Frage, ob eine geteilte Katastrophenangst Menschen wirklich näher zusammenrücken lässt.

Die Vorteile der Schwarmintelligenz

In Wien haben sich in den letzten Jahren die Bewohner verschiedener Wohnhausanlagen via Facebook vernetzt: So im neuen Sonnwendviertel hinter dem Hauptbahnhof, einer ohnehin auf Transparenz und gemeinsam genutzte Flächen ausgelegten Siedlung. In einer geschlossenen Facebook-Gruppe wird hier über die Montage von SAT-Receivern oder Verstöße gegen die Hausordnung (lautes Musikhören, Grillen, Glasscherben im Hausflur) diskutiert. Die Grenze zur Überwachung von Nachbarn durch Nachbarn ist fließend. Aber, wie auch in einer Genossenschaftswohnbauanlage im fünften Bezirk, die ebenfalls über Facebook vernetzt ist, überwiegen die Vorteile gegenseitiger Unterstützung: Nachbarn empfehlen einander Ärzte oder sie suchen gemeinsam nach dem Besitzer einer zugelaufenen Katze.

Hier greift auch der Begriff der „Schwarmintelligenz“: Ein Nachbarschaftsnetzwerk ermöglicht es, die eigene Wahrnehmung um die Wahrnehmung der vielen zu erweitern. Hunderte Nachbarn sehen und wissen mehr als einer allein. Und weil in der Regel niemand Interesse hat, dem anderen etwas aufzuschwatzen, kann man dem nachbarschaftlichen Tipp vertrauen. Noch. Denn die Frage, wie sich eine größere Nachbarschaftsplattform wie FragNebenan finanzieren soll, ist offen. Eine große Supermarktkette hat sich bereits aktiv an die Betreiber gewandt. Solche Werbepartnerschaften, die die Glaubwürdigkeit massiv beeinträchtigen würden, strebt man bei FragNebenan derzeit jedenfalls nicht an.

Maya McKechneay, ORF.at

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