Grundfreiheiten und winzige Details
Die wichtige Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im EU-Gefüge ist im Wesentlichen unstrittig. Gerade aus Großbritannien kommt aber immer wieder der Vorwurf, der EuGH überschreite seine Kompetenzen und versuche vor allem die eigene Macht auszubauen.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
„Juristischer Aktivismus“ lautet das aus den USA stammende Schlagwort dazu, wenn ein Gericht via Rechtssprechung direkt versucht, Recht zu schaffen. Tatsächlich haben die europäischen Höchstrichter laut der deutschen Politikwissenschaftlerin Susanne Schmidt große Macht, weil sie sagen: „Wir haben Vorrang, EU-Recht bricht nationales Verfassungsrecht.“ Entscheidend dafür waren zwei EuGH-Urteile in den Jahren 1963 und 1964.
Vorrangregelung für EU-Recht
In der Sache Van Gend & Loos entschied der EuGH, dass es sich beim Gemeinschaftsrecht um eine eigene Rechtsordnung - unabhängig also von dem der Mitgliedsstaaten - handelt, dass es „Direktwirkung“ hat. Ab diesem Zeitpunkt war Unionsrecht nicht mehr normales Völkerrecht, mit der Folge, dass seither nicht nur Staaten, sondern auch einzelne Bürger vor den EuGH ziehen können. Im Jahr darauf fällten die Luxemburger Richter im Fall Costa/ENEL die zweite Grundssatzentscheidung, wonach Europarecht Vorrang vor nationalem Recht, auch vor Verfassungsrecht, hat.
Auch wenn das Projekt einer EU-Verfassung 2005 mit der Ablehnung bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert ist - de facto agiert der EuGH längst als europäischer Verfassungsgerichtshof. Diese Rolle wurde durch die Grundrechtecharta noch wesentlich untermauert.
„Alternative Rechtsordnung“
Privaten Akteuren wie Unternehmen und Einzelpersonen bietet der EuGH laut Schmidt eine „alternative Rechtsordnung“, da man mit dem Argument, eine nationale Gesetzesbestimmung widerspreche EU-Recht mit einem sogenannten Vorabentscheidungs- oder Vorlageverfahren zum EuGH kommen kann. Und EU-Recht genieße Vorrang, sodass auf diese Weise nationales Recht „ausgehebelt“ werden könne, wie zuletzt im Fall Max Schrems vs. irische Datenschutzbehörde.
Vorlagen für Kommission
Nicht nur unmittelbar - etwa durch die Aufhebung einer Verordnung -, auch mittelbar beeinflusst der EuGH mit seinen Urteilen die EU-Gesetzgebung. Denn die Kommission, die als Einzige das Recht hat, Gesetzesvorschläge zu machen, könne unter Bezug auf ein EuGH-Urteil sagen, „hier ist ein regelungsbedürftiger Bereich“ und eine neue Richtlinie oder Verordnung ausarbeiten, so Schmidt. So geschehen etwa bei der Arbeitszeitrichtlinie.
„Richtige Balance“
Kritik etwa aus Großbritannien, der EuGH regle viel mehr als zulässig, teilt weder Schmidt noch der Europarechtsexperte Alberto Alemanno. Man könne in dieser Hinsicht immer Kritik an einzelnen Urteilen üben, doch „insgesamt hat er eine richtige Balance gefunden“, ist Alemanno überzeugt.
Schmidt verweist darauf, dass sich das Vereinigte Königreich mit seiner Parlamentssouveränität - im Vergleich zur Verfassungssouveränität etwa in Deutschland oder Österreich - traditionell besonders schwertue, dass ein Höchstgericht der Politik Grenzen aufzeige.
„Ständige Konstitutionalisierung“
Allerdings plädiert Schmidt dafür, das Vertragsrecht der Union stark zu reduzieren - es also ähnlich wie bei nationalen Verfassungen auf die Staatsorganisation und Grundrechte zu beschränken. Derzeit passiere nämlich eine „ständige Konstitutionalisierung“ durch EuGH-Urteile bei winzigen Details, für die eigentlich ganz normale Gesetze, also Verordnungen oder Richtlinien, reichten. Das passiere immer, wenn sich die europäischen Richter auf eine der vier Freiheiten, etwa die Dienstleistungsfreiheit, berufen würden.
Dem konservativen britischen Premier David Cameron würde das in Hinblick auf das von ihm versprochene „Brexit“-Referendum wohl gefallen. Das freilich würde einen grundsätzlichen Umbau der Union bedeuten. Dass die EU derzeit mehrere schwere Krisen gleichzeitig zu bewältigen hat, macht einen solchen aber nicht wahrscheinlicher.
Guido Tiefenthaler, ORF.at, aus Brüssel
Links: