Pleiten, Pech und Pannen bei Opposition
Kanadas Liberalenchef Justin Trudeau wird bei seinen Auftritten wie ein Popstar gefeiert, und Thomas Mulcair von den Sozialdemokraten (NDP) wirkt wie die Vertrauenswürdigkeit selbst. Beide Parteien liegen inhaltlich nahe beieinander. Vom konservativen Premier Stephen Harper haben umgekehrt inzwischen sogar Stammwähler genug. Trotzdem kann er nach der Wahl am Montag auf eine weitere Amtszeit hoffen.
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Harper ist schon seit 2006 Premier von Kanada, zweimal als Chef von Minderheitsregierungen. Der Wirtschaftswissenschaftler gilt als taktisch gewieft, das aber um den Preis einer kühlen und technokratischen Aura. Die „New York Times“ sprach von Harpers Regentschaft als den „dunklen Jahren“ Kanadas, in denen das einstige Vorzeigeland in Sachen Liberalität zum erzkonservativen Mahnmal geworden sei. In vielen Bereichen sieht man Auswirkungen erst jetzt, etwa in den politisch und budgetär ausgehungerten Provinzen.
Eigene Klientel spürt Nachteile von Harpers Politik
Die Verstärkung der Provinzautonomie ohne die nötigen Kompetenzen und das nötige Geld war ein typischer Harper-Schachzug: Er entledigte sich damit heikler Verantwortungen gerade im Gemeinwesen und Sozialsystem und konnte Missstände als fehlende Eigenverantwortung geißeln. Inzwischen sind die Folgen davon aber auch in seiner Wählerschicht angekommen, die ohnehin früher zu einem Gutteil die Liberalen gewählt hat.

APA/AFP/Geoff Robins
Kanadas Premier Stephen Harper im Wahlkampf
Vorhandene Antipathien gegen Harper verstärkten sich zuletzt noch durch das Bild des in der Ägäis ertrunkenen Flüchtlingskinds Aylan Kurdi, dessen Bilder die ganze Welt erschütterten: Das Kind und seine Eltern hatten zuvor auf legalem Weg nach Kanada kommen wollen, wo seit Langem ein Onkel und andere Verwandte leben, die noch dazu zur Gänze für ihren Lebensunterhalt aufgekommen wären. Harpers äußerst scharfe Fremdenrechtslinie, bisher immer für Gutpunkte in seiner Wählerschaft gut, war ins Negative gekippt.
Bad in der Menge und Umfragehoch
Dazu kam, dass Harper bei Wahlkampfauftritten das Gefühl vermittelte, dass er diesen nicht nötig habe - während etwa der 43-jährige Trudeau, Sohn des früheren Premiers Pierre Trudeau, vom Bad in der Menge anscheinend gar nicht genug bekommen konnte. Der Lohn war beständiger Zuwachs in den Umfragen, je länger der Wahlkampf dauerte: Trudeau kam auf über 37 Prozent Zustimmung, mit den Konservativen (29 Prozent) und den Sozialdemokraten (24 Prozent) in klarer Distanz.
Mit der näherrückenden Wahrscheinlichkeit des Machtwechsels passierte jedoch, was in Kanada seit Jahren immer wieder passiert, wenn Liberale und Sozialdemokraten an einem Strang ziehen müssten: Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer nicht so weit auseinanderliegenden Positionen konzentrierten sie sich im Wahlkampf nur noch auf das Gegenüber und richteten einander über die Medien Unfreundlichkeiten aus. Die Fehde hatte schon Harpers Minderheitsregierungen möglich gemacht.
Ein Tritt in das schlimmstmögliche Fettnäpfchen
Dazu kam im Finish noch der Wahlkampf-GAU: Ausgerechnet die Liberalen stehen einmal mehr im Dunstkreis der Korruption. Eine weitreichende Korruptionsaffäre hatte schon die Ära der liberalen Regierungen in Kanada 2006 beendet und Harpers Aufstieg erst möglich gemacht. Von diesem Schlag und dem Misstrauen der Wähler begann sich die Partei erst jetzt zu erholen, als Dan Gagnier, ein enger Mitarbeiter Trudeaus, beim grenzwertigen Lobbying bei Energiekonzernen erwischt wurde.

Reuters/Chris Wattie
Trudeau stolperte über für die Liberalen altbekannte Probleme
Die geplante „Energy East“-Pipeline quer durch Kanada ist seit Jahren ein großes politisches Thema in Kanada. Die Konservativen sind klar dafür, Umweltschützer ebenso klar dagegen, die Liberalen und Sozialdemokraten halten sich bedeckt. Umso gravierender war Gagniers Mail, in der er in seiner Eigenschaft als Unternehmensberater schrieb, er könne Firmen darin schulen, wie man Projekte umsetzen könne - etwa „Energy East“.
Harper sieht Beweis für „miese“ Gesinnung
Harper nahm den Ball in Sekundenschnelle auf: Die Mail sei nur ein Beispiel von vielen für die „miese“ Gesinnung der Liberalen, so der Premier. Und statt sich sofort in Schadensbegrenzung zu versuchen, machte Trudeau alles noch schlimmer: Nicht nur, dass er Gagnier die Stange hielt und betonte, er vertraue auf dessen „ethisches Verhalten“ - er rechtfertigte die Mail auch noch mit dem Argument, Gagnier habe sie ohnehin als Privatmann geschrieben. Erst Tage später trennte man sich von Gagnier.
Dass sich Harper dennoch weiterhin auf dem kürzeren politischen Ast sieht, beweist sein Wahlkampffinish: Zuletzt schaltete er Inserate, in denen er Trudeau unterstellte, er wolle Kanada flächendeckend mit Bordellen überziehen und Marihuana an Kinder verkaufen. Begründet war all das mit dem dünnen bis lächerlichen Argument, dass Trudeau einmal gegen einen konservativen Gesetzesvorschlag zur Strafverschärfung bei Prostitution gestimmt habe.
Alles auf Anfang?
Auch die Sozialdemokraten stiegen allerdings am Ende auf einen Schmutzkübelwahlkampf um, wenn auch auf solideren Fakten basierend: Sie schalteten Inserate und Wahlkampfspots mit prominenten Vertretern der Konservativen, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind, und stellten das in Zusammenhang mit der Tradition von „Korruption und Missmanagement der Liberalen“. Ob diese Art des Wahlkampfschlusssprints den Sozialdemokraten nützt oder nur das sorgfältig aufgebaute Sympathieimage ankratzt, wird man erst anhand der Wahlergebnisse sehen.

AP/Canadian Press/Ryan Remiorz
Sozialdemokrat Mulcair blieb im Wahlkampf fast bis zum Ende ruhig
Es sollte sich aber laut Umfragen noch ein Wahlsieg der Liberalen ausgehen, die dann wohl mit Billigung der Sozialdemokraten eine Minderheitsregierung bilden könnten. Fragen von Medienvertretern, ob sie sich das vorstellen könnten, wichen sowohl Trudeau als auch Mulcair in den letzten Tagen noch mehr aus als zuvor und ätzten statt einer Antwort noch mehr über das jeweilige Gegenüber. Damit erinnert zumindest in dieser Hinsicht alles an 2006 - als Harper unter dieser Voraussetzung Premier werden konnte.
Lukas Zimmer, ORF.at
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