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„Anleitung zum empathischen Handeln“

„Alles steht Kopf“ hat schon in den USA und Großbritannien für intensive Diskussionen unter Psychologen gesorgt. Manche befanden gar, der Streifen solle „auf Rezept“ Pflicht für alle Eltern sein. So weit will die auf Kinder und Jugendliche spezialisierte Klinische- und Gesundheitspsychologin Claudia Hartl nicht gehen. „Hilfreich“ könne der Film aber schon sein, meint sie im Interview.

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ORF.at: Sind die Emotionen in dem Film „korrekt“ dargestellt? Der Psychologe Dacher Keltner als wissenschaftlicher Berater des Films zeigte sich ja nur mit der Traurigkeit nicht einverstanden, weil die in Wahrheit viel aktiver sei als im Film dargestellt.

Claudia Hartl: Von „korrekt“ im Sinne von richtig und falsch halte ich nichts, da jeder Mensch mit seinen genetischen Anlagen, seinem sozialen Background und seinem Charakter ein einzigartiges „Gemisch“ ist. Die Grundfarben unserer Emotionen waren im Film gut sichtbar, und bei der kleinen Riley war es in dieser Situation, mit dieser Hintergrundgeschichte, eben so.

In meiner Praxis habe ich noch nie eine Geschichte gehört, die der anderen glich. Das Leben ist so unterschiedlich gefärbt, wie die Menschen sind. Und meine Wut sieht anders aus als Ihre, wir würden aber beide „Wut“ dazu sagen. Papa hatte im Film ja eine mit Bart ...

Claudia Hartl

M. Karpischek

Claudia Hartl

ORF.at: Welche Fehler oder Fehleinschätzungen über Emotionen enthält der Film aus der Sicht einer Psychologin?

Hartl: Ich würde nicht von Fehlern sprechen, es hätte mich aber gefreut, wenn der Beziehungsaspekt und dessen Wirkung stärker hervorgehoben worden wäre. Aber es ist schließlich ein Film, keine Doku.

ORF.at: Welche häufigen Fehleinschätzungen von Eltern über ihre Kinder kann der Film korrigieren helfen?

Hartl: Der Film unterstützt bei der sogenannten Perspektivenübernahme - ich kann mir dadurch besser vorstellen, dass mein Gegenüber gerade die „Wut“ am Schalthebel sitzen hat. Eine Anleitung zum empathischen Denken, Fühlen, Handeln. Eine Fehleinschätzung könnte sein, dass wir als Erwachsene manchmal glauben, wir haben „kleine Erwachsene“ vor uns. Der Film, auch der Nachspann, hat gut gezeigt, dass jeder Mensch eine anders gefärbte, ganz persönlich angelegte Gefühlswelt hat und diese auch reift, bei Mama anders als bei Papa, anders als beim Kind.

ORF.at: Ist der Film überhaupt hilfreich - oder im Gegenteil eine Droge für „Helikopter-Eltern“, die alles pathologisieren müssen?

Hartl: Eher hilfreich. Es hat mich an „Es war einmal...das Leben“ erinnert … nur auf der psychischen statt körperlichen Ebene, nach der Devise: So sieht’s also in uns drinnen aus - ganz normal. (lacht) Es gibt schöne Bilder zum Merken: einfach für alle, die auch an grober Wissensvermittlung interessiert sind ... und sich gerne „berühren“ lassen. Für Pädagogen, Schulklassen ein feiner Kinofilm - als Input, muss ja kein „Lehrfilm“ sein. Als pathologisch oder pathologisiert habe ich nichts feststellen können. Es ging um unsere Gefühle, da ist nichts krank daran - und alle sind gleich wichtig, wie sich ja zeigt ...

ORF.at: Spielen unsere Erinnerungen für unsere Psyche tatsächlich eine so zentrale Rolle für Glück und Unglück wie im Film dargestellt?

Hartl: Der Film war sehr „erinnerungslastig“. Die Erinnerungen machen uns auch aus, „prägen“ uns sozusagen. Das Hier und Jetzt ist tatsächlich etwas zu kurz gekommen, denn da findet die Begegnung, die Veränderung statt. Die Rahmenhandlung fand aber vor allem im Inneren statt.

ORF.at: Im Film übernimmt die Traurigkeit die Erinnerung und schafft damit die Grundvoraussetzung für Veränderung - ist das eine zutreffende Darstellung?

Hartl: Ich würde eher sagen, dass die Quintessenz ist, auf alle seine Gefühle achten zu dürfen, diese „zulassen“ zu dürfen, eine differenzierte Wahrnehmung entwickeln zu können. Nur „happy“ und nie traurig ist einseitig, starr, macht unflexibel, führt zu Verdrängung. Schön wäre es, ein Mensch zu sein, der all seine Gefühle spüren kann, zulassen kann und sich auf dieser Basis weiterentwickeln kann! Oft haben wir viel zu sehr Angst vor der Angst. Kinder haben auch zum Traurigsein und Wütendsein noch einen viel ursprünglicheren Bezug!

Aufgabe der Erwachsenen ist es, ihnen ihre Gefühle nicht auszureden, sondern zuzuhören, empathisch auf sie einzugehen, und mit ihnen durch vielfältigen Umgang mit den Emotionen am besten gleich mitwachsen! Weil wir hören ja mit unserer Entwicklung nie auf ... und können voneinander lernen - auch im Streit, in der Wut, durch die Traurigkeit. Das heißt nicht, dass wir den Kindern „alles durchgehen“ lassen sollten. Aber ein einfühlendes Verstehen hilft, einen Begleiter in einer gewissen Situation zu haben. Dadurch werden wir stark, und unser System kommt nicht so leicht zum Zusammenbruch.

Das Gespräch führte Lukas Zimmer, ORF.at

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