„Systematisch unterfinanziert“
Viele Politiker und Medien behaupten dieser Tage gerne, Europa werde von Flüchtlingen „überrannt“ oder Europa stehe einer „Flüchtlingswelle“ machtlos gegenüber. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache: Neun von zehn Menschen, die vor dem Krieg in Syrien flüchten, bleiben in den Nachbarländern. Der Libanon und Jordanien nehmen mit Abstand die meisten aus Syrien geflüchteten Menschen auf.
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Doch nicht nur die Geflüchteten, sondern auch die Länder, die sie aufnehmen, sind auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Diese wird allerdings immer mehr ausgedünnt.
„Nur noch allernötigste Basisversorgung“
Man könne etwa in Jordanien im Moment nur noch die allernötigste Basisversorgung aufrechterhalten, hieß es diese Woche vom UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) in Österreich gegenüber ORF.at. Für alles, was nicht lebensnotwendig ist, sei kein Geld mehr da: „Die Lebensmittelunterstützung durch das World Food Programme der UNO ist extrem gering, außerdem sind nur extrem wenige Investitionen in Bildung möglich.“
Relativ zur Bevölkerungszahl nahmen der Libanon und Jordanien 2014 weltweit die meisten Flüchtlinge auf. In Jordanien leben etwa ca. 630.000 Menschen, die aus Syrien geflüchtet sind (Stand Juni 2015). Jordanien habe ohnehin schon ein Problem mit der Wasserversorgung im Sommer. Nun müssen noch mehr Menschen versorgt werden. Auch die Müllkrise im Libanon sei symptomatisch, hieß es vom UNHCR. Die Infrastruktur der beiden Länder ist der durch die Geflüchteten stark wachsenden Bevölkerung schlicht nicht gewachsen.
USA, Kuwait und EU zahlen am meisten ein
4,5 Milliarden US-Dollar sind 2015 für syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern nötig. Nur ein gutes Drittel davon ist derzeit finanziert. Zu den Ländern die durch dieses Hilfsprogramm, den Refugee Resilience Plan, unterstützt werden, zählen neben Jordanien und dem Libanon die Türkei, Ägypten und der Irak.

Reuters/Muhammad Hamed
Ein syrischer Bub vor dem Zelt seiner Familie in einer provisorischen Flüchtlingssiedlung nahe der jordanischen Hauptstadt Amman
Der Refugee Resilience Plan wurde von diesen Staaten gemeinsam mit der UNO erarbeitet. Größter Geber sind derzeit die USA, danach folgt Kuwait, dann die EU. Das UNHCR ist bei seiner Hilfe auf die freiwilligen Zahlungen der Staaten angewiesen (genauso wie die Hilfsorganisationen, die etwa in Jordanien im Einsatz sind, auf Spendengelder angewiesen sind). Es gibt keinen Schlüssel, welches Land wie viel zahlen muss.
Panik, Verzweiflung, Perspektivenlosigkeit
„Die ganze Hilfe ist systematisch unterfinanziert“, sagte Christoph Schweifer, Generalsekretär für die Auslandshilfe der Caritas Österreich, im Gespräch mit ORF.at. Als konkrete Folge könne Jordanien keine kostenlose Gesundheitsversorgung mehr zur Verfügung stellen. Auch die andauernde Hilfe sei nicht gesichert.
Das löse Panik und Verzweiflung aus und führe zu Perspektivenlosigkeit, so Schweifer. Wenn Eltern wissen, dass ihre Kinder in Jordanien in die Schule gehen können und eine Zukunftsperspektive haben, sehen sie nicht die Notwendigkeit, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Die nötige finanzielle Unterstützung bereitzustellen sei ein konkreter Punkt um etwas zu verändern, „ein Anknüpfungspunkt, der unmittelbar wirkt und machbar ist“.
Resignation im Flüchtlingslager Saatari
Diese Perspektivenlosigkeit sprach auch der Experte für humanitäre Hilfe, Kilian Kleinschmidt, vergangene Woche bei einem von der Caritas organisierten Pressegespräch in Wien an. Der Deutsche leitete bis zum vergangenen Jahr das Flüchtlingslager Saatari in Jordanien, mit momentan knapp über 80.000 Einwohnern das zweitgrößte der Welt. Am Dienstag gab Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) bekannt, dass Kleinschmidt künftig der Bundesregierung in Flüchtlingsfragen zur Seite stehen soll.
In Saatari habe er viele Flüchtlinge kennengelernt, die anfangs dachten, sie würden nur kurz bleiben, erzählt Kleinschmidt. „Dann kam der Moment der Resignation, als ihnen klar wurde: Das wird länger dauern.“ Jordanien brauche dringend die Unterstützung der Weltgemeinschaft, so Kleinschmidt. Man müsse außerdem endlich anfangen, die Ursachen der Konflikte und der Armut aktiver zu bekämpfen. Was die vom Krieg betroffene Region im Nahen Osten brauche, sei Unterstützung beim Ausbau der Bildung und des Arbeitsmarkts.
„Geringe Summe im Vergleich zu Militärausgaben“
Ihre Probleme gingen uns alle an, „nicht nur weil wir eine Weltgemeinschaft sind, sondern auch aus wirtschaftlichen Interessen“. Eine Investition von einer halben Milliarde oder einer Milliarde Euro – „für die EU kein Geld“ – statt „stückerlweiser Hilfe“ würde ein klares Signal an die Bevölkerung der Krisenregion im Nahen Osten senden, dass etwas getan wird.
„Wenn die Weltgemeinschaft es nicht schafft, die Grundunterstützung für Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn diese Menschen sich auf den Weg nach Europa machen“, kritisiert Kleinschmidt. Es brauche einen US-Dollar pro Tag, um einen Flüchtling zu ernähren. Das sei eine geringe Summe im Vergleich etwa zu den Militärausgaben oder zu den Beträgen, über die mit Griechenland verhandelt werde. Bis Ende des Jahres fehlten dem World Food Programm (WFP) 45 Millionen Euro - „die Kosten des ungarischen (Grenz-)Zaunes“.
Jedes dritte Kind geht nicht in die Schule
Acht von zehn syrischen Familien in Jordanien können nicht genug Geld für eine Unterkunft aufbringen, mehr als die Hälfte der geflüchteten Menschen sorgt sich, nicht genug Nahrungsmittel kaufen zu können. Vor allem die Kürzung der Lebensmittelgutscheine des Welternährungsprogramms hat sie stark getroffen. Das zeigt ein Anfang Juli veröffentlichter Bericht der internationalen Hilfsorganisation CARE.
Die Flüchtlinge könnten nicht zur Ruhe kommen, so CARE Österreich, sie sorgten sich weiterhin um Freunde und Familienangehörige, die noch in Syrien sind. „Die internationale Gemeinschaft muss dringend längerfristige Lösungen für die vertriebenen Menschen finden und finanzieren, damit sie sich wieder eine Existenz aufbauen können.“
Kinderarbeit und Verheiratung von Mädchen haben laut dem Bericht stark zugenommen. Etwa ein Drittel der schulpflichtigen Flüchtlingskinder geht nicht in die Schule - viele, weil sich die Eltern Schulmaterialien nicht leisten können oder weil die Kinder arbeiten müssen.
Romana Beer, ORF.at
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