Historiker imaginieren Sieg Napoleons
Was wäre, wenn Napoleon Bonaparte die Schlacht bei Waterloo gewonnen hätte? Selbst Historiker halten es für möglich, dass ein Sieg des Kaisers den Zweiten Weltkrieg verhindert hätte. Auch zahlreiche Autoren haben sich an Szenarien abgearbeitet - in ihrer Fantasie sahen sie Napoleon sogar China unterwerfen.
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200 Jahre ist es her, dass Napoleon bei Waterloo entscheidend geschlagen wurde. Doch was wäre, wenn der Franzosenkaiser an jenem 18. Juni 1815 südlich der heutigen belgischen Hauptstadt Brüssel über das Bündnis seiner Gegner gesiegt hätte? Hätte es ein französisch dominiertes Kontinentaleuropa und dafür später keine Weltkriege gegeben? Solche Szenarien reizen Literaten ebenso wie seriöse Wissenschaftler.
Hansestädte zu Frankreich
„Zunächst einmal wären Bremen, Hamburg und Lübeck wieder französische Städte geworden“, sagte der Historiker Helmut Stubbe da Luz, selbst ein Hamburger, der Nachrichtenagentur AFP. Die norddeutschen Hansestädte waren schon einige Jahre zuvor unter die Herrschaft des Franzosenkaisers gekommen, ihm dann aber wieder verloren gegangen.
Allerdings macht Stubbe da Luz einen wissenschaftlichen Vorbehalt: Napoleon hätte nach einem Sieg bei Waterloo noch weitere Schlachten siegreich ausfechten müssen, da die Gegner nicht gleich aufgegeben hätten. In den Worten des Waterloo-Spezialisten Philippe Raxhon von der Universität Lüttich: „Es war ein totaler Sieg für die Alliierten. Aber für Napoleon wäre es kein totaler Sieg gewesen.“
Zweiter Russland-Feldzug
Wird jedoch eine Fortsetzung der Siegesserie vorausgesetzt, dann hätte sich nicht nur die europäische Landkarte verändert, urteilt Stubbe da Luz. „Wenn Napoleon seine ursprünglichen Pläne von 1810 umgesetzt hätte, dann wäre er noch einmal in Russland eingefallen und hätte sein Reich womöglich bis an die Grenzen Chinas ausgedehnt.“
Ein noch radikaleres Szenario erdachte schon im 19. Jahrhundert der französische Schriftsteller Louis Geoffroy. In ‚Napoleon und die Eroberung der Welt‘ unterwirft dieser unter anderem sogar China und macht das Reich zu einer asiatischen Provinz. Geoffroy ersann den immer weiter aufwärts führenden Weg des einstigen Artillerieoffiziers bis hin zum „Gipfel einer Allmacht, über der es nur noch Gott gibt“, wie es im Vorwort des Werkes von 1836 heißt.
„Diktator, aber nicht reaktionär“
Gottgleiche Allmacht? „Napoleon war ein Diktator, aber er war kein reaktionärer Diktator wie der russische Zar“, so Stubbe da Luz. Den neuen Untertanen habe er auch viel Gutes gebracht: zum Beispiel die rechtliche Gleichstellung von religiösen Minderheiten wie Juden und Katholiken.
Der Historiker zieht, vorsichtig und mit vielen Vorbehalten, weitreichende Schlüsse. In einem französisch dominierten Kontinentaleuropa, mit der Seemacht Großbritannien als Gegengewicht, hätte Deutschland voraussichtlich nicht seine tatsächliche Stärke erlangt - mit weltgeschichtlichen Folgen: „Deutschland wäre wahrscheinlich nicht in der Lage gewesen, einen Ersten und Zweiten Weltkrieg hervorzurufen.“
Natürlich ist Stubbe da Luz bewusst, dass solche Szenarien „immer umstritten sind“. Tatsächlich riskiert die Geschichtswissenschaft auf diesem Feld, in Fantasie überzugehen, wie auch Historiker Raxhon warnt: „Es gibt zu viele Parameter.“ Werde nur ein einziger davon verändert - zum Beispiel der Ausgang der Schlacht bei Waterloo - so gerate die Darstellung schnell ins Uferlose.
Mathematiker statt Feldherr
Dass solche Gedankenspiele jedoch reizvoll sind und gerade auch die Literatur beschäftigen, liegt nahe. Geoffroys Roman über Napoleon steht für ein ganzes Genre. Der deutsche Schriftsteller Dieter Kühn etwa beschreibt im Roman „N“ Napoleons Lebensweg und stellt an den verschiedensten Weggabelungen die Frage „Was wäre, wenn?“ Napoleon hätte zum Beispiel auch Mathematiker werden können, imaginiert der Romancier.
Ein ferner Verwandter von Geoffroys Roman ist schließlich der Bestseller „Vaterland“ von Robert Harris. Er beschreibt, wie 1964 ein US-Präsident in Deutschland erwartet wird, und zwar zu einem Besuch bei Adolf Hitler, der in dem Roman den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat - einen Krieg, der manchem Szenario zufolge überhaupt nie provoziert worden wäre, wenn Napoleon vor 200 Jahren bei Waterloo gesiegt hätte.
Philipp Saure, AFP
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