Appell an Armenier und Türken
Das EU-Parlament hat die Türkei aufgefordert, den Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren im Osmanischen Reich anzuerkennen. In einer am Mittwoch in Brüssel verabschiedeten Entschließung forderten die Abgeordneten, „den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen und so den Weg für eine wirkliche Aussöhnung der Türken und der Armenier zu ebnen“.
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In der Resolution wird die Türkei auch aufgefordert, „das Gedenken an den 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern zum Anlass zu nehmen, ihre Bemühungen, einschließlich der Gewährung des Zugangs zu den Archiven, fortzusetzen, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen“. Das EU-Parlament erinnerte daran, „dass immer mehr (EU-)Mitgliedsstaaten, einschließlich ihrer Parlamente, den im Osmanischen Reich begangenen Völkermord an den Armeniern anerkennen“.
Erste Resolution vor 28 Jahren
Am 24. April 1915 hatte die damalige Regierung des Osmanischen Reiches mit der Verhaftung und Vertreibung der Armenier begonnen. In den folgenden Jahren fielen nach armenischen Angaben bis zu 1,5 Millionen Angehörige der Minderheit einem Völkermord zum Opfer.
Das Europaparlament hatte die Tragödie bereits 1987 als Völkermord eingestuft und die Regierung in Ankara aufgefordert, das ebenfalls anzuerkennen. Entsprechende Resolutionen verabschiedeten etwa auch die Parlamente von Belgien, Schweden und Frankreich. Die Türkei, wo nur noch eine armenische Minderheit lebt, lehnt den Begriff Völkermord allerdings ab.
Europäische Aussöhnung als Vorbild
Der am Mittwoch beschlossene Text richtet sich neben Ankara auch an Eriwan. Die EU-Abgeordneten fordern Armenien und die Türkei auf, „sich Beispiele für eine erfolgreiche Aussöhnung europäischer Nationen zum Vorbild zu nehmen und eine Agenda in den Mittelpunkt zu rücken, bei der die Zusammenarbeit der Völker an erster Stelle steht“.
Beide Länder sollten ohne Vorbedingungen ihre 2009 vereinbarten Protokolle über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen ratifizieren und umsetzen, die Grenze öffnen und ihre Beziehungen insbesondere im Hinblick auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die wirtschaftliche Integration aktiv verbessern, verlangten die EU-Abgeordneten. „Nur dadurch kann ein erster Schritt für eine aufrichtige Aussöhnung zwischen dem armenischen und dem türkischen Volk gesetzt werden“, sagte der SPÖ-EU-Abgeordnete Josef Weidenholzer.
Erinnerung als Mittel gegen Wiederholung
Der EU-Parlamentarier verwies darauf, dass es sich bei den Gräueltaten um den „ersten systematischen Völkermord des 20. Jahrhunderts“ gehandelt habe. „Während des Ersten Weltkrieges wurde das begonnen, was sich 25 Jahre später im Zweiten Weltkrieg in der Vernichtung von Juden und Roma und Sinti wiederholen sollte. Nur durch Erinnern und das Eingestehen von Schuld ist es möglich, Fehler der Vergangenheit nie wieder zu begehen“, so Weidenholzer.
„Die Bezeichnung des Völkermords als Völkermord ist wichtig“, sagte die grüne Vizepräsidentin des Europaparlaments, Ulrike Lunacek. Die Türkei müsse das anerkennen. Lunacek verwies darauf, dass Österreich-Ungarn und das Deutsche Kaiserreich im Ersten Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbündet waren. Als Völkermord haben mehr als 20 Einzelstaaten, darunter Belgien, Schweden, die Schweiz und Frankreich, die Gräueltaten eingestuft. Österreich und Deutschland sind nicht darunter.
„Bei einem Ohr rein, beim anderen raus“
Das EU-Kandidatenland Türkei hat sich entgegen der Meinung zahlreicher Historiker bisher geweigert, die Gräueltaten an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord anzuerkennen. Dass sich daran bald etwas ändert, ist fraglich. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte bereits vor der Entscheidung des EU-Parlaments angekündigt, dass sein Land die europäische Resolution missachten werde.
„Welche Entscheidung auch immer sie fällen - es würde beim einen Ohr rein- und beim anderen wieder rausgehen“, sagte Erdogan gegenüber Journalisten vor seiner Abreise zu einem offiziellen Besuch in Kasachstan. Und weiter: „Für die Türkei ist es niemals möglich, eine solche Sünde, eine solche Schuld anzuerkennen“, sagte Erdogan am Mittwoch in Ankara laut Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu.
Erdogan droht Papst
Erdogan hatte sich bereits am Vortag über die Aussagen von Papst Franziskus empört gezeigt. Erdogan bezeichnete den Gebrauch des Wortes „Völkermord“ durch Franziskus im Zusammenhang mit den Massenmorden an Armeniern durch das Osmanische Reich als „Unsinn“. Das Oberhaupt der katholischen Kirche solle einen derartigen Fehler nicht noch einmal machen, drohte der erboste Erdogan am Dienstag in einer Rede vor Geschäftsleuten in Ankara. Franziskus hatte am Sonntag als erster Papst den Begriff benutzt, um das Vorgehen des Vorgängerstaates der Türkei im Jahr 1915 zu beschreiben.
Türkei will Beziehungen nicht abbrechen
Unterdessen versucht Ankara die diplomatischen Wogen, die es selbst nach den Aussagen von Franzsiskus ausgelöst hatte, wieder etwas zu glätten. Nachdem Außenminister Mevlüt Cavusoglu nach der Rückberufung des türkischen Botschafters beim Heiligen Stuhl noch am Dienstag weitere Schritte in Aussicht gestellt hatte, ohne jedoch konkreter zu werden, stellte der Botschafter selbst klar, dass die Türkei die Beziehungen zum Vatikan nicht abbrechen wolle. „Wir wollen unsere Botschaft nicht schließen“, sagte der türkische Botschafter beim Heiligen Stuhl, Aydin Adnan Sezgin, der italienischen Tageszeitung „Il Messaggero“ laut Kathpress.
Es sei klar, dass die Aussage des Papstes vom Sonntag Auswirkungen auf das türkisch-vatikanische Verhältnis habe, so der Diplomat. Es gebe jedoch auch weiterhin Raum, um „der Diplomatie neuen Atem zu geben“.
Der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu kritisierte ebenfalls die Äußerungen von Papst Franziskus als „unangemessen“ und „einseitig“. Leider stünden die Bemerkungen des Papstes nicht im Einklang mit dessen Forderung nach Versöhnung, die er während seines Besuchs in der Türkei im November erhoben habe, sagte Davutoglu im Fernsehen. Er hoffe, dass Franziskus seine Haltung revidieren werde.
„Vatikan wird mehr leiden als sonst jemand“
Auch der Chef der türkischen Religionsbehörde Diyanet, Mehmet Görmez, kritisierte Franziskus scharf. Es sei „erschütternd, dass politische Lobbys und PR-Firmen ihre Aktivitäten auf religiöse Institutionen ausgedehnt“ hätten, sagte Görmez. Wenn die Gesellschaften anfingen, sich über vergangene Leiden gegenseitig Fragen zu stellen, „dann wird der Vatikan mehr leiden als sonst jemand“.
In Italien stellte sich dagegen eine Reihe von Politikern hinter den Papst. Außenminister Paolo Gentiloni wies nach Angaben der Nachrichtenagentur ANSA die „ungerechtfertigten Töne“ aus der Türkei zurück. Im Vatikan allerdings hüllte man sich in Schweigen. Laut ANSA gibt es keine offizielle Stellungnahme zu den Vorwürfen aus der Türkei.
Papst: Erster Völkermord des 20. Jahrhunderts
Papst Franziskus hatte zuvor bei einer Messe im Petersdom gesagt, die erste der drei großen Tragödien des vergangenen Jahrhunderts habe die Armenier getroffen und gelte „weithin als erster Völkermord des 20. Jahrhunderts“ - mehr dazu in religion.ORF.at.
Hundert Jahre nach dem Völkermord an den Armeniern erinnere sich die Menschheit an dieses „tragische Ereignis, diese ungeheure und sinnlose Vernichtung, deren Grausamkeit eure Vorfahren erlitten haben“, sagte Franziskus vor armenischen Gläubigen im Petersdom. Sich zu erinnern sei eine „Pflicht“, fügte der Papst hinzu. „Denn wenn die Erinnerung schwindet, hält das Böse die Wunde weiter offen.“
Gedenkgottesdienst in Armenien verhindert
Laut einem Bericht der türkischen Zeitung „Vatan“ hatte die Türkei einen Gedenkgottesdienst des Papstes in Armenien verhindert. Der Gedenkgottesdienst hätte am 24. April in Eriwan stattfinden sollen, stattdessen fand der Gottesdienst am 12. April im Vatikan statt - mehr dazu in religion.ORF.at.
Erklärung aus dem Jahr 2000 zitiert
Der Vatikan sprach nicht das erste Mal von „Völkermord“ an den Armeniern: Wie bereits bei einem Treffen mit armenischen Geistlichen 2013 zitierte Franziskus auch bei der Gedenkmesse am Sonntag die Worte aus einer im Jahr 2000 verfassten Erklärung seines Vorgängers Johannes Paul II. und des armenischen Patriarchen Karekin II.
Das türkische Außenministerium hatte Franziskus’ Worte bereits 2013 scharf kritisiert und als „inakzeptabel“ bezeichnet. Zudem warnte es den Vatikan damals davor, „Schritte vorzunehmen, die irreparable Konsequenzen für unsere Beziehungen haben könnten“. Vom Pontifikat werde erwartet, zum Weltfrieden beizutragen, statt Feindseligkeiten über historische Ereignisse zu schüren, hieß es damals weiter. Franziskus betete während der Sondermesse für eine Versöhnung zwischen den Völkern Armeniens und der Türkei.
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