Die Revolution langweilt ihre Kinder
Die Ratlosigkeit in Tschechien und der Slowakei zum 25. Jahrestag der „Samtenen Revolution“ hat Bände gesprochen: Zwar gab es reichlich offizielle Gedenkfeiern, und die Medien waren voll mit dem Thema - Partylaune wie in Berlin ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall wollte aber nicht aufkommen, und das, obwohl man eine Revolution wohl nicht besser hinbekommen kann als die Tschechoslowakei 1989.
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Unter all den Wendebewegungen im früheren Ostblock war jene in der damaligen Tschechoslowakei in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Weder gebrauchten die Revolutionäre Gewalt, wie etwa in Rumänien ein paar Wochen später, noch hatten die Tschechoslowaken einen „großen Bruder“ im Hintergrund wie die BRD beim Umbruch in der DDR. Und schleichend wie bei den Ungarn kam die Öffnung schon gar nicht. Noch vor dem Abend des 17. November 1989 sah es so aus, als säßen die Kommunisten in Prag fester im Sattel als selbst in Moskau.
Viele versäumte Zündfunken
Gelegenheiten, dass der demokratische Funke hätte überspringen können, waren reichlich da - im Falle Prags vor allem wohl durch die Tausenden DDR-Bürger, die sich in die Prager Botschaft der BRD geflüchtet hatten und nach einem politischen Nervenkrieg im Herbst schließlich nach Westdeutschland ausreisen durften. Doch abgesehen von zaghaften Protestkundgebungen blieb alles verhältnismäßig ruhig. Immerhin hatte das Regime auch den Dichter Vaclav Havel als Galionsfigur der Bürgerrechtler vorsorglich verräumt und die Massen mit Lippenbekenntnissen zu Reformen abgespeist.

AP/Peter Dejong
Prag im November 1989
Havel waren auch noch am 16. November die Hände gebunden. Und doch war an diesem Tag auf einmal etwas anders, als im slowakischen Bratislava die Studenten auf die Straße gingen. Vielleicht brauchte es im tschechisch-slowakischen Antagonismus - der fünf Jahre später auch zur Trennung der Staaten führen sollte - das Beispiel dieser heute fast vergessenen Demo, um auch in Prag die Dinge in Bewegung zu bringen. Auch wenn letztlich ein taktischer Fehler des Regimes den Ausschlag gab.
Sinnlose Prügelorgie weckte das Land auf
Am Abend des 17. November fand in Prag eine genehmigte Studentendemo zum Gedenken an die Schließung der Unis durch die Nazis 50 Jahre davor statt. Dass 15.000 Menschen gekommen waren, machte dem Regime offenbar Angst. Es kam zu anlassloser Polizeigewalt, 600 Demonstranten wurden zum Teil schwer verletzt. Der Vorfall wurde zum Brennpunkt, an dem sich die aufgestaute Wut der zuvor so duldsamen Tschechen und Slowaken konzentrierte, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes über Nacht.
Am Morgen nach der Prügelorgie war - auch wegen des falschen Gerüchts über ein Todesopfer - der Generalstreik der Studenten ausgerufen, und jener der Theater gleich dazu. Vor allem aber war auch die breite Masse der Bevölkerung über das Niederknüppeln einer friedlichen Demo empört, gegen deren antifaschistischen Kundgebungszweck das Regime ja nichts haben konnte. Mit den Studenten stellten sich ab nun auch Väter, Mütter und Nachbarn der grundlos Verprügelten protestierend auf den Prager Wenzelsplatz - in anderen Worten: Vertreter aus allen Bevölkerungsschichten.
„Es“ ist da - was immer „es“ auch sein mag
Dass die Massen damals „Uz je to tady“ (wörtlich „Endlich ist es da“, im Sprachgebrauch eher „Jetzt ist es passiert“) skandierten, entbehrt nicht einer gewissen Hintersinnigkeit: Die meisten Demonstranten waren wohl selbst am meisten davon überrascht, was da gerade passierte. Und was „es“ genau war, das da passierte, wussten wohl noch weniger. Ein Vierteljahrhundert später ist erwiesen, dass die Träger des Protests anfangs nur auf ein Gleichziehen des Regimes etwa auf das Reformniveau der damaligen DDR oder Ungarns hofften.

AP/Diether Endlicher
Havel als frisch vereidigter Präsident am 29. Dezember 1989
Dazu verbreitete sich das Klimpern mit dem eigenen Schlüsselbund als Protestsymbol. Zehntausendfach multipliziert wurde daraus ein ebenso ohrenbetäubendes wie imposantes Sinnbild dafür, dass das ganze Land nun gegen das Regime war. Dem blieb nur noch die Wahl, den Aufstand mit Gewalt niederzuschlagen oder nachzugeben. Es entschied sich, nachdem Moskau alle Hilfegesuche ablehnte, kompromisslos für Letzteres: Innerhalb von Tagen waren Dissidenten zu Ministern ernannt und Havel am 10. Dezember als Staatsoberhaupt designiert.
Zu optimistisch oder zu realistisch
Zwei Tage vor Silvester wurde Havel schließlich von den kommunistischen Parlamentsabgeordneten auch offiziell zum Präsidenten gewählt. Zwischen dem Aufkeimen von Protesten und der Vollendung der „Samtenen Revolution“ waren nur 43 Tage vergangen. Dass alles so schnell ging, mag eine Wurzel dafür sein, dass die Revolution heute außer bei den „Veteranen“ kaum Anlass für Nationalstolz ist: Damals war für eine Aufarbeitung des Kommunismus-Erbes kein Raum, und der Rückstand wurde de facto nie aufgeholt.
Zum Teil ist der Ingrimm bei den Proponenten von damals sogar stärker als bei anderen. Der Umweltaktivist Jan Budaj, damals das slowakische Gegenstück zu Havel, meinte erst zuletzt gegenüber der dpa, er verzeihe Havel „bis heute nicht“, dass er dem „antikommunistischen Konsens den Todesstoß versetzt“ habe und die Wende damit „unvollendet blieb“. Um Havel unlautere Absichten zu unterstellen, braucht es aber wohl gehörige persönliche Verbitterung. Vorwerfen könnte man ihm eher übergroßen Optimismus - oder im Gegenteil realpolitische Vernunft.
Antikommunismus war keine Option
Einerseits waren die Revolutionäre damals selbst vom Wirbel der Ereignisse befangen: Wenn ein Regime wider alle Erwartungen durch friedliche Proteste einsah, dass die Zeit für den Abgang gekommen war - warum sollte dann auch nicht der folgende Staat nach der Devise „Alles ist möglich“ urdemokratisch und altruistisch aufgebaut werden können? Gerade Havel selbst war aber vielleicht am wenigsten vom grenzenlosen Optimismus jener Tage angesteckt und musste sich der Aufgabe stellen, das Staatsgebilde ohne Brüche am Laufen zu halten.
Antikommunismus war keine Option: In der Tschechoslowakei war der Bevölkerungsanteil an eingeschriebenen Kommunisten etwa dreimal höher als selbst in der Sowjetunion. Sogar bei den freien Wahlen 1990 bekamen die Kommunisten eine Million Stimmen, trotz des damals verbreiteten Vertrauens in Havel und seine Mitstreiter. Die waren außerdem klug genug, um zu erkennen, dass der Aufstand der Bevölkerung mindestens ebenso viel mit Unzufriedenheit über den Lebensstandard wie mit dem Kampf um Demokratie zu tun hatte.
Aufschwung, und zwar rasch, bitte
Um den Wandel nicht zu gefährden, musste also wirtschaftlicher Aufschwung her, und zwar rasch. Das Mittel dazu war wirtschaftlicher Liberalismus. Das, gepaart mit einer mangelnden Aufarbeitung der Geschichte, bereitete jedoch der nächsten Politgeneration das Feld: Schon 1991 war aus dem Bürgerforum die neoliberale ODS von Vaclav Klaus geworden, und eine unheilige Allianz von alten kommunistischen Seilschaften und neu hinzugekommenen Machtmenschen nutzte ab nun wechselnde Mehrheiten im Land für ihre Zwecke.
Hälfte der Bevölkerung sieht Revolution negativ
Die Machtwechsel seither werden vor allem durch das Bekanntwerden von Korruptions- und anderen Skandalen getaktet. Nicht von ungefähr denkt etwa laut Umfragen rund die Hälfte der Tschechen heute, dass das Leben vor 1989 besser gewesen sei: Die Träume von damals sind teils enttäuschter Ernüchterung gewichen, teils hat man sich an demokratische Freiheiten als selbstverständlich gewöhnt. Und es ist einmal mehr sinnbildhaft, dass die tschechische Politik heute vom Milliardär Andrej Babis, dem „tschechischen Stronach“, angetrieben wird.
Babis, seit heuer Vizepremier und Finanzminister, präsentiert sich als Kämpfer gegen Korruption und für Wohlstand. Die Wähler glauben ihm, dem Kind eines kommunistischen Topkaders, der nach dem Studium in einem staatlichen Konzern untergebracht wurde, mit der Schützenhilfe alter Freunde zum Eigentümer des staatlich weiterhin schwer geförderten Agrofert-Konzerns wurde, Spitzeltätigkeiten in den 80ern bisher nicht glaubwürdig dementieren konnte und seine erwiesene kommunistische Parteimitgliedschaft damit erklärt, dass ihn wohl „irgendjemand eingetragen haben muss“.
Lukas Zimmer, ORF.at
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