Ein paar Gallensteine für Vorlicek
Ganz am Ende, etwa drei Minuten vor Schluss, findet die Familie zusammen, geschieht das Wunder und ist das Böse besiegt. Dann beginnt es zu schneien, und danach kann die Bescherung losgehen. Ungefähr so enden drei Viertel aller modernen Weihnachtsfilme. Dass Weihnachten in Weihnachtsfilmen meist nur als Randerscheinung auftaucht, ist aber kein Zufall, denn sie sind keine Weihnachtsfilme.
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Wenn man genauer sein will: Weihnachtsfilme sind erst im TV Weihnachtsfilme. Als bestes Beispiel dafür kann gleich der Klassiker aller Klassiker des Genres herhalten, Frank Capras „Ist das Leben nicht schön?" (It’s a Wonderful Life“) aus dem Jahr 1946. Der Film feierte damals am 20. Dezember in New York Premiere, lief pünktlich zum Weihnachtsfest landesweit an und spielte nur mit Müh und Not die Herstellungskosten ein. Daraufhin verschwand er für Jahre in der Versenkung, nur um über den Umweg Fernsehen schließlich Jahrzehnte später Anerkennung zu finden.
Wenn der Weihnachtsmann im Sommer kommt
Eigentlich hatte Capra alles richtig gemacht: Er hatte ein brillantes Drehbuch, das auch heute noch trotz seiner Zuckersüße zu Tränen rührt, er hatte mit James Stewart einen zugkräftigen Star und zugleich die perfekte Besetzung für die Rolle des US-Jedermanns George Bailey, und er hatte die Mittel und die Freiheit für die Umsetzung des Stoffes ohne Abstriche und Kompromisse. Dazu kam ein Publikum, das nach Kriegsende gar nicht genug von heimeligen Filmen mit erbaulicher Botschaft bekommen konnte.
Capras einziger Fehler war, einen Weihnachtsfilm zu Weihnachten ins Kino zu bringen. Was auf den ersten Blick wie ein Paradoxon wirkt, ist auf den zweiten Blick logisch: In Weihnachtsstimmung, und damit in Stimmung für Weihnachtsfilme, ist man vielleicht noch drei oder vier Tage nach dem Fest - wenn man zu Weihnachten überhaupt ins Kino gehen will. In drei oder vier Tagen, und das bei halbvollen Sälen, verdient man aber als Produzent nichts. Das wusste schon Hollywood-Legende Darryl F. Zanuck und ließ prompt seinen Weihnachtsfilm im Sommer laufen.

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Das sommerliche „Wunder von Manhattan“ im Jahr 1947
Man darf davon ausgehen, dass Zanuck Capras Bauchfleck genau beobachtet hatte. Sein Studio arbeitete zur selben Zeit an „Miracle on 34th Street“ („Das Wunder von Manhattan“), der Geschichte von einem Mann, der sich für den Weihnachtsmann hält oder es vielleicht sogar ist. Zanuck verlangte die Fertigstellung bis Mai und ließ alle Verweise auf Weihnachten aus Plakaten und Trailern tilgen. Santa Claus hin oder her - im Sommer würden mehr Leute ins Kino gehen als zu Weihnachten, so Zanucks Überlegung. Er sollte recht behalten. Auch das weihnachtliche „Stirb langsam“ startete 1988 beispielsweise mitten im Sommer.
Auf den Start rund um Thanksgiving kommt es an
Noch besser als im Sommer funktioniert Zanucks Geschichte aber, wenn die Vorfreude auf Weihnachten hilft. Das Remake von „Miracle on 34th Street“ aus dem Jahr 1994 startete denn auch am 18. November und spielte über 46 Millionen Dollar (rund 37 Mio. Euro nach damaligem Wechselkurs) ein. Zu diesem Zeitpunkt gehörte es freilich schon seit vielen Jahren zur Hollywood-Allgemeinbildung, dass erfolgreiche Weihnachtsfilme eigentlich Thanksgiving-Filme sein müssen, vom Kinostart spätestens Ende November bis hin zur Dramaturgie, die ebenfalls ganz auf das US-Familienfest schlechthin abgestellt ist.

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Macaulay Culkin, der Thanksgiving-Liebling von 1990
Zu Thanksgiving reisen in den USA oft aus allen Ecken des Landes die verstreuten Familienmitglieder an und verbringen das verlängerte Wochenende miteinander. Nach ein paar Tagen reicht es ohnehin allen, und man geht ins Kino und sieht sich dort einen Film an, der Vorfreude auf das Weihnachtsfest macht und Familienwerte hochhält. 1990 zum Beispiel „Home Alone“ („Kevin - Allein zu Haus“): Filmstart am 16. November, mit einem Einspielergebnis von 476 Millionen Dollar. Auch „Polar Express“ konnte etwa im Jahr 2004 mit landesweitem Start am 10. November über 307 Millionen Dollar einspielen.
Wie der Festtagsgeruch in die Filme kommt
Dafür, dass der Filmstart im November den Weihnachtsfilm macht, gibt es gute Anhaltspunkte: So denkt etwa in den USA bei „Mary Poppins“ niemand an Weihnachten, und warum sollte man auch: Der Film spielt nicht einmal im Winter und kam am 27. August 1964 in die US-Kinos. In Europa sieht das allerdings anders aus. In einer Zeit, als man sich noch nicht vor Raubkopien fürchten musste und sich dementsprechend mit der Synchronisation Zeit lassen konnte, startete „Mary Poppins“ in den deutschsprachigen Kinos im Spätherbst 1965 - und wurde hier nie wieder den „Geruch“ eines Weihnachtsfilms los.
Auch die tschechisch-ostdeutsche Produktion „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ stolperte im Jahr 1973 unfreiwillig in ihr Schicksal als Weihnachtskult. Eigentlich wollte sich Regisseur Vaclav Vorlicek brav an die Vorlage der Romantikerin Bozena Nemcova halten, die 1845 ihre Mixtur aus Grimm’schen Märchenmotiven im Frühling ansiedelte. Doch die Kooperation zwischen den Filmverbänden der DDR und der CSSR stand unter keinem guten Stern: Realsozialistischer Bürokratismus verzögerte das Projekt - und als Vorlicek auch noch seine Gallensteine dazwischenkamen, war der Frühlingsdreh endgültig gestorben.
Die geheime Macht von Omas und Enkeln
Die Legende will es, dass sich Vorlicek schließlich unter dem Einfluss eines Wien-Besuchs zu einer 180-Grad-Wende für den Film entschloss: Das im Kunsthistorischen Museum hängende Bruegel-Bild „Jäger im Schnee“ soll den Ausschlag dafür gegeben haben, dass sich der Regisseur auch mit einem winterlichen Aschenbrödel anfreunden konnte. Die Pechsträhne ging allerdings weiter: Man habe „viel Spaß mit dem Schnee“ gehabt, wird Vorlicek auf einer akribisch recherchierten „Aschenbrödel“-Fansite zitiert: zuerst gar keiner - und dann so viel, dass die Crew beinahe darin unterging.

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„Jäger im Schnee“, Pieter Bruegel d. Ältere, Kunsthistorisches Museum, Wien
Der Lohn für den schwierigen Dreh war dann noch dazu eine Beleidigung durch die CSSR-Filmkommission: Der Film, der eigentlich eine der vielen tschechischen 70er-Jahre-Musikkomödien sein sollte, wurde zum Kinderfilm abgestempelt und lief im November 1973 vor allem in den Matineevorstellungen der Prager Kinos. Die Einzigen, die sich den Film damals anschauen konnten, waren Omas und ihre Enkel, sagte Vorlicek in einem Interview, das als Bonusmaterial für die tschechische DVD-Ausgabe des Films aufgenommen wurde.
Die vermeintliche Schmach wurde für Vorlicek und alle anderen Beteiligten zum Glücksfall: Einmal mehr brannte sich bei einer ganzen Generation der „Weihnachtsgeruch“ des Films ein. Das bewährte Rezept für den Festtagsknüller war schließlich komplett, als der Streifen zu Weihnachten 1975 ins westliche TV vorgedrungen war. Davon, dass sein „Aschenbrödel“ auf diesem Umweg doch noch zum Erfolg geworden war, soll Vorlicek schließlich in einer Badewanne in Karlovy Vary erfahren haben, wo er endlich sein Gallenleiden auskurieren wollte.
Lukas Zimmer, ORF.at
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