Kiez versus Kommerz
Neues Verkehrsmittel oder blanker Zubringer für Touristen? Im Hamburger Kiez St. Pauli gehen dieser Tage die Wogen der Empörung hoch. Bürgerplattformen formieren sich. Nicht nur weil der österreichische Seilbahnhersteller Doppelmayr gemeinsam mit den Hamburger Musical-Theatern ein Seilbahnprojekt plant, das von Betreiberseite und mit eigener Plattform im Internet als neue Form des ruhigen und schonenden städtischen Verkehrsmittels gepriesen wird, Kritikern aber als pure Touristengondel ein Dorn im Auge ist.
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Auch der geplante Abriss der so genannten „Esso-Häuser“, einem 1960er Plattenbau am Spielbudenplatz, erzürnt Bewohner und die eingesessene Hamburger Club- und Musikszene am Rand der Altstadt. Die Eigentümer der Bauten, eine Immobilienfirma aus Bayern, habe die Gebäude so lange verfallen lassen, bis sie letztlich abbruchreif waren, lautet der Vorwurf der Bewohner. Zuerst musste man die Balkone wegen Baufälligkeit für die Nutzung sperren, jetzt steht ein ganzer Gebäudeblock zur Debatte. Und im Hintergrund des „Esso-Blocks“ erheben sich die „Tanzenden Türme“, ein Bauprojekt nach Plänen des Architektenbüros Bothe, Richter, Teherani und fertiggestellt wie finanziert vom STRABAG-Konzern. Für Immobilieneigentümer soll die Zukunft am Eingang der Reeperbahn jedenfalls neuer, schöner und höher werden, also mit mehr Nutzfläche versehen sein.

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„Esso-Block“ und „Tanzende Türme“ im Hintergrund: Altbestand versus neue Prestigebauten als Debatte auf St. Pauli
St. Pauli als Touri-Kulisse?
So mancher Bewohner von St. Pauli oder Neustadt vermutet, dass die Stadtteile nur noch zur Kulisse für Touristen werden. „Während Hamburger Musiker das Thema Gentrifizierung künstlerisch verarbeiten, sorgen sich Anwohner und Betroffene weiterhin um ihre Zukunft“, schrieb jüngst das „Hamburger Abendblatt“.
Der vom Abriss der „Esso-Häuser“ bedrohte Rockclub Molotow fordert eine Sanierung der Häuser. Auch der Club wäre mit dem Abriss Geschichte. Hamburg solle auf dem Kiez „diesen letzten Sargnagel für St. Pauli nicht einschlagen“, so der dringende Appell. Wer Szeneläden durch Systemgastronomie und Liveclubs durch Kommerztheater ersetze, dürfe sich nicht wundern, wenn die von der Stadt so heiß umworbenen Kreativen und Künstler nicht mehr nachkämen, so die Botschaft des Rockclubs in einem offenen Brief.

Dietmar Feichtinger Architectes/Stage Entertainment GmbH
Schöne neue Gondelwelt. So könnte man lautlos über den Hamburger Hafen schweben. Finden die Betreiber der Hamburger Seilbahn.
„St. Pauli ist kein Disneyland“, zitierte auch die „Süddeutsche Zeitung“ am Mittwoch jene aufgebrachten Bürger, die im Moment versuchen, gegen das Seilbahnprojekt mobil zu machen. Anders als der Betreiber, der auf den Renderings zur Seilbahn den Nutzen des ökologischen Verkehrsmittels preist, das nicht zuletzt auch den Individualverkehr zügle, befürchten andere, dass das Argument mit dem Verkehrsmittel nur vorgeschoben sei. Bei sechs Euro pro regulärer Fahrt gehe es eher um eine Touristenschaukel, die am Ende noch bei einer Musical-Bühne enden solle.

Dietmar Feichtinger Architectes/Stage Entertainment GmbH
Gondelstützen im Höhenwettkampf mit dem Hamburger „Michel“. Geplant wurde das Projekt vom Architekturbüro Dietmar Feichtinger.
Musical gegen Viertelkult: Ein Stück Tradition
Musical gegen Eingesessen, das ist in Hamburg sowieso eine Auseinandersetzung mit Tradition. Die „Rote Flora“, jenes autonome Kulturzentrum, das der Stadtsenat (in dem auch mal ein gewisser Ronald Schill Innensenator war) anders als die Hafenstraße nicht in den Griff bekam, feiert dieser Tage ihr 25-jähriges Bestehen. Ihre Geschichte beginnt, als man im Herbst 1989 das teilabgerissene Floratheater besetzte und damit den Neubau eines Andrew-Lloyd-Webber-Spielhauses verhinderte. Doch diese Geschichte spielt in Altona am anderen Rand der Stadt und erzählt eher die Geschichte einer Sinnsuche. Senat, die „Roten Floristen“ und auch Axel Springer begegnen einander im Moment eher mit Gleichgültigkeit als mit geharnischten Ansagen.

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Die „Rote Flora“ im Schanzenviertel: Hier ist es in den Auseinandersetzungen eher ruhig geworden
Vor dem Bürgerentscheid über die Gondel von St. Pauli bemühen sich die Betreiber um gute Stimmung mit allen Mitteln. Auf einer aufwendig gemachten Webplattform wirbt man nicht nur mit eindrucksvollen Renderings für das 1,5 Kilometer lange Projekt. Man verweist auch auf die „Option Südstrecke“, also eine Verlängerung zum Stadtteil Wilhelmsburg (ein Projekt, das bereits 2009 durch Hamburger Medien geisterte). Die höchsten Pfeiler der Seilbahn seien zudem nicht 130 Meter hoch, wie von den Kritikern behauptet, sondern „40 Meter niedriger“ als das Wahrzeichen der Stadt, der berühmte „Michel“, also der Glockenturm der evangelischen Hauptkirche Hamburgs St. Michaelis (der 132 Meter misst).

Dietmar Feichtinger Architectes/Stage Entertainment GmbH
Können Gondeln ein Verkehrsmittel in der Stadt der Zukunft sein? Und wenn ja, um welchen Preis pro Fahrt, wenn die Gondelstrecke privat finanziert ist?
Überdies verweist man auf den geräuschlosen Antrieb der Panoramagondeln. Das Hauptargument der Betreiber: Die Errichtung der Seilbahn koste den Hamburger Steuerzahler „keinen Cent“. Dass Seilbahnbauer Michael Doppelmayr und Stage Entertainment dem Bezirk Mitte zudem zehn Millionen Euro für gemeinnützige Projekte spenden wollen, sollte der Bürgerentscheid am 24. August positiv ausgehen, sorgt für neue Diskussionen. Gegner des Projekts sahen das als Versuch, den Ausgang des Entscheids zu beeinflussen.

Corbis
Erinnerungen an alte Hamburger Konfrontationszeiten. Doch diesmal herrscht mitunter Kater- statt Kampfstimmung.
200.000 Menschen können am Sonntag in dem von SPD und Grünen regierten Hamburg-Mitte abstimmen, über 50.000 sollen das schon mittels „Briefwahl“ getan haben. An den Ausgang des Bürgerentscheids muss sich der Hamburger Senat grundsätzlich nicht halten. Nach Informationen des „Hamburger Abendblatts“ habe der Senat aber zugestimmt, den Entscheid anzuerkennen.
Imagefaktor Alternative Mainstream
Unabhängig vom Ausgang des Entscheids um die Gondelbahn und der Zukunft der „Esso-Blöcke“ muss St. Pauli mit einem eigenständigen Profil in der Kreativszene punkten. Magazine verschiedener Couleurs rufen ja Wilhelmsburg dieser Tag als Place to be für die Jungen, Coolen und Kreativen aus. Und die sind sicher nicht mehr mit dem Aspekt „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ zu locken.

Lena Meyer
Reeperbahn Festival - St. Pauli kämpft um die Aufmerksamkeit in der Kreativszene. Und lockt das Konzertpublikum.
Zum neunten Mal setzt man in St. Pauli deshalb in diesem Herbst auf das Reeperbahn Festival (17. bis 21. September), das nicht nur eine Musikveranstaltung zu den Bereichen Indie, Pop, Hip-Hop und Elektronik sein mag. Unter dem Motto „Talents, Trends & Trade“ will man vor allem ein Umschlagplatz für die Musik- als auch die digitale Kreativwirtschaft sein. Über 30.000 Besucher erwartet man bei dem Festival, das auch so manchem Hamburger Club vom Schmuddelbarock eines „Königs von St. Pauli“ abgestaubt hat.
Die Stadt Hamburg hält sich bei den Konflikten zwischen Kommerzinteressen und alter Alternativkultur auffallend bedeckt. In Zeiten, wo bei Prestigeprojekten wie der Elbphilharmonie die Baukostenüberschreitungen immer drastischer werden, darf man über ein bisschen Kiez-Konflikt zwecks Ablenkung fast schon dankbar sein. Und offenkundig stehen „Hamburger Schule“ und „Rote Flora“ auch demnächst auf den Einreichplänen für das UNESCO-Weltkulturerbe. In Tourismusbroschüren lobt man jedenfalls von offizieller Seite die „roten Floristen“ als „entschlossene Hausbesetzer“.
Gerald Heidegger, ORF.at
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