Kleinkinder statt Säuglinge als Zielgruppe
Es ist eine Kampagne mit enormen Folgen gewesen: Als die britische NGO 1974 den Bericht „The Baby Killer“ veröffentlichte, setzte langsam das Umdenken ein. Der Report prangerte Nahrungsmittelkonzerne an, die vor allem in Entwicklungsländern Milchpulver als Ersatz für Muttermilch propagierten. Auch in den Industrieländern wurde daraufhin das Stillen wieder modern. Die Konzerne haben aus dem Debakel von damals dazugelernt - zumindest teilweise.
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Es war in den fortschrittsgläubigen Nachkriegsjahren, als der Siegeszug der Muttermilchersatzprodukte ihren Lauf nahm. In den USA zeigen Statistiken, dass Anfang der 70er Jahre nur rund ein Viertel aller Mütter ihre Neugeborenen stillten. Zum Vergleich: In Österreich waren es Mitte der 70er Jahre etwa 60 bis 70 Prozent. Generell sind die Zahlen aber schwierig zu vergleichen, da manchmal das Stillen nach der Geburt und manchmal nach sechs Monaten gemeint ist.
Frontalangriff auf Nestle
Doch da war der Paradigmenwechsel schon eingeläutet. Und der Bericht „The Baby Killer“ der NGO War on Want sollte eines der tragenden Elemente dafür sein. Darin wurde die aggressive Werbung von Konzernen wie Nestle kritisiert, die in afrikanischen Ländern Müttern Milchpulver als Muttermilchersatz verkaufen sollte.
Das Problem daran: Mangels sauberen Trinkwassers erwies sich die Kindernahrung häufig als tödlich. Im deutschsprachigen Raum wurde die Broschüre noch aggressiver mit dem Titel „Nestle tötet Babys“ veröffentlicht. Auch Klagen des Konzerns konnten den Erfolg nicht stoppen.
Siegeszug des Stillens
Nestle musste einlenken, 1979 schritt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein, und 1981 wurde ein internationales Abkommen geschlossen, dass Anbietern von Babynahrung irreführende Werbung untersagt. 1989 schließlich empfahl die WHO Müttern bis zum sechsten Monat des Kindes das Stillen, zahlreiche Regierungen übernahmen diese Empfehlung, Experten und Ärzte unterstützen das weitgehend. Die Stillquote stieg quer über die ganze Welt, die Muttermilch hatte gewonnen. Das geht so weit, dass mancherorts in Europa sogar schon von einem „Stillzwang“ die Rede ist.
Ein- bis Fünfjährige als Zielgruppe
Die Nahrungsmittelkonzerne mussten sich jedenfalls andere Märkte suchen. Spät, aber doch scheinen sie diese jetzt gefunden zu haben. Laut dem internationalen Marktforschungsinstitut Euromonitor haben 2013 die Umsätze für Milchnahrung für Ein- bis Fünfjährige erstmals jene für Babys überholt.
Der jährliche Umsatz beträgt mittlerweile 15 Milliarden Dollar, berichtet das Internetmagazin Quartz - und der große Boom-Markt ist in Asien. In den letzten fünf Jahren haben sich in China die Umsätze verdreifacht. Aggressive Werbemethoden treffen dabei auf die Bedürfnisse überbesorgter Eltern, die ihre Kinder für den immer stärker werdenden Leistungsdruck fit machen wollen.
Medizin aus dem Supermarkt?
Medizin aus dem Supermarkt, lautet das Motto: Die Konzerne werben mit Nahrungsergänzungsmitteln, die die „Kindermilch“ enthält. Vor allem Docosahexaensäure (DHA), eine Omega-3-Fettsäure, soll die Entwicklung der Augen- und Gehirnfunktionen der Kinder unterstützen. DHA ist auch in Muttermilch enthalten. Und die fünf großen Anbieter Danone, Nestle, Mead Johnson, Abbott Laboratories und Wyeth LLC verweisen jeweils auf eigene Studien, die zeigen sollen, wie gesund ihre Produkte sind.
Und die Marketingstrategie geht auf, meint die Ernährungsexpertin Agnes Marie Tarrant von der Universität Honkong gegenüber Quartz. Und das nicht nur in Asien. Auch im Westen würden „Helikoptereltern“, also überfürsorgliche Eltern, besonders auf diese Produkte ansprechen. „All diese Dinge sind für neurotische Eltern gemacht“, sagt sie.
Experten: Teuer und nutzlos
Auch Experten in aller Welt weisen darauf hin, dass die Milchnahrung nicht nur teuer und nutzlos, sondern manchmal auch eher schädlich ist. Die EU-Lebensmittelsicherheitsbehörde EFSA stellte vergangenes Jahr fest, dass die „Kindermilch“-Erzeugnisse, die häufig als „Rezepturen für die Wachstumsphase“ angepriesen werden, „keinerlei Mehrwert für die Deckung des Nährstoffbedarfs von Kleinkindern“ hätten.
Das deutsche Bundesamt für Verbraucherschutz äußerte sich bereits mehrfach noch schärfer: Verschiedene Kindermilchprodukte seien „hinsichtlich der Zusammensetzung nicht an die Ernährungsbedürfnisse von Kleinkindern angepasst“.
Teilweise sogar schädlich
Die britische Verbrauchschutzorganisation Which? stellte fest, dass eine untersuchte „Kindermilch“ im Vergleich zu Kuhmilch nur halb so viel Kalzium, aber doppelt so viel Zucker enthielt. Mead Johnson musste 2010 bereits in den USA einen zu süßen Milchdrink mit Schokoladegeschmack wieder vom Markt nehmen.
Zudem, meinen Experten, würden viele der Produkte deutlich mehr Eiweiß als etwa Kuhmilch enthalten. Das würde wiederum den Appetit auf sonstiges Essen zügeln. Ernährungsprobleme würden also eher verursacht als gelöst.
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