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„Friedhof für Invasoren“

Der Gazastreifen wird von Palästinensern häufig als „größtes Gefängnis der Welt“ bezeichnet - nicht zu Unrecht: Rund 1,8 Millionen Menschen leben in dem 45 Kilometer langen und fünf bis zwölf Kilometern breiten Landstreifen am Mittelmeer. Vor rund sieben Jahren, nach der Machtübernahme der Hamas, verhängten Ägypten und Israel eine Land- und Seeblockade über Gaza.

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Diese wurde zwar zweitweise gelockert, etwa als die Muslimbrüder in Ägypten an der Macht waren, doch die Menschen im Gazastreifen leben großteils unter dramatischen Bedingungen. Durch wochenlangen Raketenbeschuss auf Israel provozierte die Hamas eine militärische Reaktion geradezu. Der Vorteil aus Sicht der Hamas: Mit der kriegerischen Auseinandersetzung werden interne kritische Stimmen zum Schweigen gebracht und damit der völlige Zusammenbruch der Hamas-Regentschaft vorläufig verhindert. Zudem hat die Hamas angesichts dessen, dass sie wirtschaftlich und international völlig isoliert ist, kaum noch etwas zu verlieren.

Hoffen auf Zermürbungstaktik

Der Hamas-Führer in Gaza, Ismael Hanija, machte am Montag klar, dass seine Bewegung alles auf eine Karte setzt - nämlich Israel durch einen zermürbenden Guerillakampf und das Zufügen von schmerzhaften Verlusten wie dem Tod oder der Entführung von Soldaten Zugeständnisse abzuringen. Dass in der blutigen Auseinandersetzung Hunderte palästinensische Zivilisten sterben, nimmt die Hamas dabei in Kauf - ein zynisches und unmenschliches Kalkül, wie nicht zuletzt Israel immer wieder betont.

Hanija wiederholte, die Hamas werde einem Waffenstillstand nur zustimmen, wenn im Gegenzug die Blockade aufgehoben werde. Das haben aber Israel wie Ägypten ausgeschlossen. Es würde aus Sicht Israels die Hamas stärken und stabilisieren und ihr ermöglichen, sich weiter aufzurüsten und ihr Tunnelsystem auszubauen. Ägypten hatte in der Vorwoche einen Plan für einen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen unterbreitet, den Israel akzeptierte und die Hamas ablehnte.

Zerstörtes Gebäude in Gaza

Reuters/Mohammed Salem

Zahlreiche Gebäude wurden bei israelischen Luftangriffen völlig zerstört

„Belagerung muss beendet werden“

Hanija sagte in einer TV-Ansprache: „Wir können nicht zurück, wir können nicht zum stillen Sterben zurückkehren.“ Laut Hanija würden alle 1,8 Millionen Bewohner von Gaza seine Forderung nach einem Ende der Blockade unterstützen. „Gaza hat sich entschieden, die Blockade mit seinem Blut und seinem Mut zu beenden.“ „Diese Belagerung, diese ungerechte Belagerung muss beendet werden“, so Hanija weiter. Gaza werde „zum Friedhof für die Invasoren werden, wie das in der Geschichte immer so war“, zitierte die „New York Times“ Hanija. Wiederholt rief die Hamas die Bevölkerung zuletzt auf, sich zu menschlichen Schutzschilden im Guerillakrieg der Hamas mit Israels Armee zu machen.

Völlige Entmachtung als politisches Ziel

Auch Israels Führung ist derzeit nicht zu einem Waffenstillstand bereit. Sie will der Armee genügend Zeit geben, um vor allem das gefährliche Tunnelsystem im Gazastreifen so weit wie möglich zu zerstören und den Raketenbeschuss zu stoppen. Zugleich wird in den Medien lautstark darüber debattiert, ob die Hamas völlig zerstört werden soll - viele befürchten, dass eine noch radikalere islamistische Organisation nachkommen könnte.

Israels Justizministerin Zipi Livni betonte am Montag im Armeerundfunk, Israel strebe eine völlige Entmachtung der Hamas an - das sei jedoch nicht mit militärischen Mitteln möglich. Ein Waffenstillstand werde nur zu Bedingungen geschlossen, die die Hamas nicht stärken würden. Mittlerweile formierte sich eine Gruppe von Eltern von Soldaten, die derzeit in Gaza im Einsatz sind, die eine Kampfpause fordert. Trotz bereits 27 gefallener Soldaten ist die öffentliche Meinung in Israel aber noch klar für eine Fortführung der Bodenoffensive.

Kämpfer in Gaza

APA/EPA/Alaa Badarneh

Palästinensische Kämpfer während eines Begräbnisses

Hamas mit Rücken zur Wand

Die Lage für die Hamas hatte sich zuletzt sowohl sozial und wirtschaftlich als auch politisch-diplomatisch so dramatisch zugespitzt, dass sie um ihre Macht fürchten musste - daher Ende April nach jahrelangem Streit das Einlenken im Streit mit der rivalisierenden, gemäßigten Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und der Bildung einer gemeinsamen Übergangsregierung.

Damit standen die Palästinenser innenpolitisch nach einem achtjährigen internen Machtkampf, freilich verschärft auch von starker Einflussnahme durch Israel und die internationale Gemeinschaft, wieder dort, wo sie sich im Jänner 2006 bereits einmal befunden hatten - nach der Wahl in den Palästinensergebieten, die mit einem haushohen Sieg der Hamas geendet hatte.

Die Lage hatte sich zuvor bereits durch den Sturz der ihnen ideologisch nahestehenden Muslimbrüder in Ägypten schlagartig verschlechtert. Der Grenzübergang zu Ägypten war nun wieder gesperrt, vom nunmehrigen ägyptischen Präsidenten Abdel Fatah a-Sisi war auch kein Entgegenkommen zu erwarten. Im Gegenteil, er sieht die Islamisten - egal welcher Couleur - als größte Gefahr.

Bushs Fehlkalkulation

Zugespitzt hatte sich die Lage im Juni 2007: Damals riss die Hamas die Macht im Gazastreifen an sich und vertrieb die gemäßigte, aber wegen Korruption in Verruf geratene Fatah-Bewegung von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Eineinhalb Jahre zuvor hatte die Hamas bei Wahlen in den Palästinensergebieten, für die sich der damalige US-Präsident George W. Bush entgegen den Warnungen Israels starkmachte, in einem Erdrutschsieg die absolute Mehrheit errungen.

Familie flieht aus Gaza

Reuters/Mohammed Salem

Familien flüchten nach Warnungen der israelischen Armee mit ihren Habseligkeiten

Die US-Regierung wollte damit indirekt die beiden Kriege in Afghanistan und dem Irak rechtfertigen. Bush hatte ja immer wieder betont, die USA wollten die Demokratie in den arabischen Raum exportieren, um auf diese Weise den islamistischen Terror zu verhindern. Mit dem Sieg der Hamas, der sich in Umfragen klar abgezeichnet hatte, konnte und wollte sich Washington freilich nicht abfinden.

Extrem hohe Arbeitslosigkeit

Eine funktionierende Wirtschaft gibt es in dem schmalen Küstenstreifen schon seit vielen Jahren nicht mehr. Mit dem Abzug der jüdischen Siedler, die vor allem in den von ihnen betriebenen Glashäusern zahlreiche Palästinenser beschäftigten, fielen wichtige Wirtschaftszweige weg. Die Arbeitslosigkeit ist mit geschätzten 23 Prozent extrem hoch - laut CIA-Factbook liegt der Gazastreifen damit weltweit an 170. Stelle von insgesamt 203.

Das Gros der Menschen lebt in Armut und ist auf internationale Hilfslieferungen angewiesen - und darauf, dass Israel und Ägypten diese durchlassen. Der internationale Zahlungsverkehr ist ebenfalls gestoppt - dadurch werden Finanzhilfen etwa des Iran verhindert, die Hamas kann damit aber auch die Beamten nicht bezahlen, was zu entsprechendem Unmut führt. Auch bei der Energieversorgung ist der Gazastreifen von Israel abhängig. Oft gab es Elektrizität seit Verhängung der Blockade nur stundenweise. Wie die massiv ausgebauten, betonierten und mit elektrischem Licht ausgestatteten Tunnel zeigen, investierte die Hamas aber offenbar viel Geld nicht in den Kampf gegen Arbeitslosigkeit, sondern in den Kampf gegen Israel.

Guido Tiefenthaler, ORF.at

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