Folgt Österreich dem EU-weiten Trend?
Das Europaparlament ist weit weg - und doch so nah. Die EU-Abgeordneten stimmen über zahlreiche Regelungen ab, die direkte Auswirkungen auf das Leben aller Österreicher haben. Doch das Interesse an den im fernen Straßburg und Brüssel tagenden Parlamentariern ist bei vielen nicht besonders groß - wie groß, zeigt sich erstmals seit fünf Jahren am Sonntag.
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Bei der ersten Europawahl im Jahr 1979 beteiligten sich noch 62 Prozent der Wahlberechtigten. Seitdem ist die EU zwar um das Dreifache an Ländern gewachsen, die Beteiligung sank jedoch von Mal zu Mal. Bei der letzten Wahl im Jahr 2009 gaben nur noch 43 Prozent der Wähler ihre Stimme ab. Für heuer sagen Meinungsforscher EU-weit einen neuen Minusrekord voraus - erste entsprechende Tendenzen zeigten sich in den Ländern, in denen bereits abgestimmt wurde. Bleibt die Frage, ob die Wahlbeteiligung in Österreich gegen den EU-Trend verläuft.
Die Tendenz seit dem EU-Beitritt 1994 gibt hierzulande jedenfalls wenig Anlass zu überschwänglichem Optimismus - wie in vielen anderen Ländern beteiligten sich zuletzt deutlich mehr Wähler an Nationalrats- oder Landtagswahlen als an der Europawahl. Bereits 1999 lag die Beteiligung hierzulande unter 50 Prozent, 2004 fiel sie auf den bisherigen Tiefststand von 42,43 Prozent, bevor sie 2009 - dank der erstmals möglichen Briefwahl - auf 45,97 Prozent stieg. Trotz dieses schwachen Werts lag Österreich damit drei Prozent über dem EU-Schnitt.
Brachte Krise mehr Präsenz?
Doch seit der letzten Wahl im Jahr 2009 haben sich einige Vorzeichen geändert: Die Europäische Union geriet in schwere wirtschaftliche Turbulenzen - die Schuldenkrise löste eine hartnäckige Debatte über die künftigen Wege der EU aus, die auch in Österreich intensiv geführt wurde. Unabhängig von diesen vielen negativen Vorzeichen gewann die EU zumindest an medialer Präsenz.
Das löste bei vielen das Gefühl des tatsächlichen, bei anderen das Gefühl des möglichen Betroffenseins von Entscheidungen in Brüssel bzw. Straßburg aus. Offen ist, ob das tatsächlich zu einer steigenden Beteiligung führen kann oder ob es womöglich zu einer weiteren Distanzierung vieler österreichischer Wähler von Europa und seinen Institutionen führt. Entscheidend wird also mitunter sein, ob sich Protest in Stimmen oder Verzicht äußert.
Mehr Wahlkarten
Aufgrund der mit 444.037 höheren Zahl von ausgegebenen Wahlkarten - 50 Prozent mehr als bei der letzten EU-Wahl - ging SORA-Wahlhochrechner Christoph Hofinger im ZIB2-Gespräch am Freitag davon aus, dass die Wahlbeteiligung diesmal höher ausfällt. Hofinger geht von 49 Prozent aus. Ob SPÖ oder ÖVP vorne liegen, könne man nicht sagen, da der Abstand in den Umfragen zu knapp sei.
„Wahlen zweiter Ordnung“
Nach Meinung von Politikwissenschaftler Peter Filzmaier verabsäumte die Politik im Zuge des Wahlkampfs das Führen einer grundsätzlicheren Debatte - stattdessen „beschränkte sich die Wahlkampfkommunikation auf Selbstverständlichkeiten“, wie Filzmaier gegenüber ORF.at sagte. Plakative Forderungen wie etwa die Notwendigkeit, weniger Schulden zu machen, und das Verurteilen von Währungsspekulationen enthielten keine konkreten Antworten auf offene Fragen bei Wählern, so Filzmaier.
„Parteien sehen das Desinteresse vieler Wähler und betrachten die EU-Wahlen nur als Wahlen zweiter Ordnung.“ Das verhältnismäßig geringe Engagement der Parteien führe zu noch mehr desinteressierten Wählern, worauf wiederum die Parteien der EU noch weniger Wahlbedeutung zumessen würden, schildert Filzmaier.
Können EU-Gesichter mobilisieren?
Doch auch ein weiterer Faktor könnte eine Rolle spielen, denn die Wahl zum Europaparlament wird erstmals nach den Regeln des EU-Vertrags von Lissabon abgehalten. Neben den österreichischen Spitzenkandidaten gingen erstmals europaweite Kandidaten ins Rennen, die den Wählern als Anwärter auf das Amt des EU-Kommissionschefs präsentiert wurden. So sollte die Zuspitzung auf europäische Spitzenkandidaten den Wahlkampf lebhafter und interessanter machen - und vor allem die Institution der Kommission populärer machen.
Mit österreichischen und europäischen Spitzenkandidaten gibt es also gleich zwei personelle Orientierungshilfen - zudem wurde das Duell Martin Schulz (SPE) gegen Jean-Claude Juncker (EVP) als Rennen um den besseren Kommissionspräsidenten medial stark inszeniert. Jedoch auch in diesem Zusammenhang bezweifelt Filzmaier, dass das österreichische Wähler ansprechen wird. „Es geht hierbei um Wählergruppen, die sich ohnehin beteiligt hätten“, so Filzmaier.
Europabewusstsein kann nicht entstehen
Generell werde der EU-Wahlkampf als „innenpolitischer Ersatzkrieg“ geführt, so Filzmaier. Zudem werde - je nach politischem Standpunkt positiv oder negativ - betont, dass angeblich bis zu 80 Prozent der heimischen Gesetze auf die EU zurückgehen, andererseits werde das Thema kaum in den Mittelpunkt öffentlicher Debatten gestellt. „Das geschieht nur unter Zwang, also etwa am Höhepunkt der Wirtschafts- und Schuldenkrise - doch auch da wirkten viele nationale Politiker und Parteien heilfroh, sobald sie sich wieder provinziellen Befindlichkeiten zuwenden konnten“, so Filzmaier. Ein Europabewusstsein könne so nicht entstehen.
Skepsis in vielen Ländern
Laut der letzten Umfrage des Nachrichtenmagazins „profil“ sagen nach wie vor 42 Prozent der Österreicher, an der EU-Wahl teilnehmen zu wollen. In anderen Ländern könnte das aber anders aussehen. Einer aktuellen Eurobarometer-Erhebung zufolge sind 58 Prozent der Europäer nicht der Meinung, dass ihre „Stimme in der EU zählt“. Nur knapp ein Drittel der Befragten gab an, der EU zu vertrauen. Für viele in Brüssel ist eine weiter sinkende Wahlbeteiligung - etwa unter die Marke von 40 Prozent - ein Horrorszenario.
Von Land zu Land ist das Bild sehr unterschiedlich: Von der Spitze des Wählerzuspruchs ist Österreich, geht man von Werten bei der letzten EU-Wahl aus, weit entfernt: In den Ländern Luxemburg und Belgien stimmten mehr als 90 Prozent ab - allerdings herrscht dort Wahlpflicht, wenn auch nicht strafrechtlich sanktioniert. In der Slowakei gaben nicht einmal 20 Prozent der Bürger ihre Stimme ab - nach Umfragen droht heuer gar ein neuer Negativrekord: Nur 15 Prozent wollen sicher abstimmen, letztlich wird erneut mit 20 Prozent gerechnet.
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